Bosnien-Herzegowina

Wie weiter nach Srebrenica?


Sarajevo (n-ost). Heute ist der zweite Tag „nach Srebrenica“. Der zweite Tag nach der Gedenkveranstaltung in Potočari, an denen Zehntausende Menschen, 50 internationale Delegationen und Hunderte Journalisten noch einmal tief betroffen waren über die Ereignisse vor zehn Jahren. Ein vier Tage dauerndes Massaker von bosnischen Serben hatte über 8000 muslimischen Jungen und Männern das Leben gekostet.

Mit der Gedenkzeremonie am Montag rückte die kleine Stadt in Ostbosnien, ganze 15 Kilometer von der Grenze zu Serbien entfernt, wieder für einen Tag in den Mittelpunkt des Interesses. Als Symbol für die Rückkehr des Genozids nach Europa und als Synonym für das Scheitern der internationalen Politik. Srebrenica war ein Tiefpunkt des von 1992 bis1995 andauernden Bürgerkrieges auf dem Balkan, aber auch Wendepunkt. Es folgte die Einsicht der unumgänglichen Einmischung von außen, doch nach der Befriedung der Region folgte ein weiteres Mal die hilflose Konzeptlosigkeit.

Bosnien muss auch heute mit Problemen fertig werden, deren Ausmaße die Menschen als ebenso dramatisch empfinden, wie die Kriegsgeschehnisse. Nach dem Zusammenbruch der ohnehin wackeligen Koalition zwischen den bosniakischen, serbischen und kroatischen Nationalparteien befindet sich das Land in einer politischen Sackgasse. Auch Wirtschaftlich liegt das Land am Boden, die Arbeitslosigkeit beträgt nach offiziellen Angaben 52 Prozent, erste ausländische Investoren – wie etwa Skoda und Audi – brachten noch nicht die Trendwende. Fünf Monate vor dem zehnten Jahrestag des Vertrages von Dayton hat das Land also keinen wirklichen Grund zum Feiern.

Zwar funktioniert das alltägliche Zusammenleben der verschiedenen Ethnien erstaunlich reibungslos, doch die drei ethnischen Parteiengruppen machen sich gegenseitig das Leben schwer. Beispiel Reform der Wehrkräfte: Gerade am letzten Wochenende scheiterten die Verhandlungen über ein gesamtstaatliches Verteidigungsgesetz. Das Ziel der Verhandlungen ist von Seiten der Europäischen Union vorgegeben - die bisherige zweigeteilte Armeestruktur (serbische und bosniakisch-kroatische Einheiten) soll aufgelöst werden, eine gesamtstaatliche Armee entstehen. Dieser Verhandlungsprozess wird immer wieder mit dem Veto einer der drei Nationalparteien geblockt.

Auch von einer Polizeireform, eine wichtige Vorraussetzungen für den Stabilisierungsprozess, ist nicht einmal mehr die Rede. Die serbische Koalition in Banja Luka, Hauptstadt der Republika Srpska (des serbischen Teils Bosnien-Herzegowinas), gibt dem Dialog keine Chance. Jede Zentralisierungstendenz wird reflexartig als „anti-daytonisch“ und damit verfassungswidrig erklärt.

Genau hier liegt das Problem: Die Regularien, die mit dem Daytoner Friedenvertrag 1995 unterschrieben wurden, verhindern einen gesamtbosnischen Staat und damit auch eine neue Identifikation mit ihm. Die Daytoner Verfassung, die nie durch ein Referendum oder das Parlament verabschiedet wurde, sieht eine strickte Trennung zwischen den zwei föderalen Staatseinheiten, der serbischen Republika Srpska (RS) und der bosniakisch-kroatischen Föderation (FBiH), vor. Die geforderte ethnische Zuordnung, die klare Trennung in Serben, Kroaten oder Bosniaken verhindert einen Verfassungspatriotismus, wie er in westeuropäischen Staaten für ein demokratisches Miteinander als Voraussetzung gilt.

Im November stehen die nächsten Gedenkfeiern anlässlich des 10. Jahrestages des Daytoner-Friedenabkommens bevor. Jeder in Bosnien weiß, Dayton hat den Frieden gebracht und das Morden beendet. Klar ist aber auch, mit der jetzig vorhandenen politischen Struktur ist Bosnien nicht entwicklungsfähig. „Wenn wir die bisherige Implementierung des Daytoner Abkommens fortführen, dann ist das ein Embargo auf die Zukunft Bosnien-Herzegowinas. Die Frage aller Fragen ist, ob ein solches Bosnien, aufgebaut auf dem Genozid, so fortbestehen oder verändert werden soll,“ kommentierte Haris Silajdžić, ehemaliger Premierminister Bosnien-Herzegowinas, die politische Lage während einer Konferenz der vor Ort stark engagierten Heinrich-Böll-Stiftung.

Konzepte werden gesucht, dem Grünen Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit erscheint eine europäische Integration als einziger Ausweg für das Land. Das sei Europa den Opfern nach der Nicht-Intervention während des Bürgerkrieges und dem Land schuldig. Einschneidende Reformen stünden dem Land bevor, will es sich tatsächlich Europa nähern – etwa die Stärkung des Rechtsstaates, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und damit wirtschaftliche Stabilität, so der EU-Kommissar für Außen- und Sicherheitspolitik, in einem Interview am Montag mit der bosnischen Tageszeitung „Dnevni avaz“ am Montag.

Nur mit einer ständigen politischen Präsenz der EU kann dieses Land die jetzige Stagnation überwinden. Eine neue Verfassung, die auf individuellen Bürgerrechten aufbaut und keine Diskriminierungen zulässt, wäre ein wichtiger Schritt. Wenn das Vorhaben scheitert, steht Bosnien wieder dort, wo es vor zehn Jahren gestanden hat: vor dem Phantom eines Staates.

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