Estland

„Ich habe das Glück, in Estland zu leben“


Tallinn (n-ost) - Von außen wirkt das Gebäude eher unscheinbar. Gelb gestrichen, drei Stockwerke hoch, eine Tür ohne Schild. Links davon, vor einem Anbau, stehen ein paar Autos und erst dort auf dem Parkplatz, zwischen einem alten VW und einem Opel Omega steht ein Symbol, das verrät, was sich hinter der Fassade verbirgt. Eine stilisierte Menora aus Metall, die bis zu den Fenstern der ersten Etage ragt, zeigt auswärtigen Besuchern, dass sie sich nicht geirrt haben, sondern vor dem Sitz der Jüdischen Gemeinde Estlands stehen.

Drinnen sieht es schon anders aus. Alte Menschen, die es sich auf den Kiefermöbeln des Gemeinschaftsraums bequem gemacht haben und angeregt plaudern, eine junge Frau mit roten Haaren, um die sich ein Dutzend Kinder drängt, die estnische und die israelische Flagge auf zwei Stangen am Ende des Raumes. Mittendrin eine Frau, die rund zwei Köpfe kleiner ist als die meisten ihrer Gesprächspartner, doch vor Energie nur so zu sprudeln scheint: Cilja Laud. Seit zehn Jahren ist die engagierte Frau Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Estlands, die mit rund 3.000 Mitgliedern wohl eine der kleinsten Europas ist. „Wir sind eine Mešpóha, eine große Familie“, sagt die gebürtige Estin und setzt ein strahlendes Lächeln auf, das sogleich ansteckend wirkt. 3.000 Mitglieder, das hört sich wenig an, doch ist die Zahl vielleicht gar nicht so gering, wenn man sich die Geschichte der jüdischen Gemeinde Estlands vor Augen führt, ein Land, in dem insgesamt auch nicht mehr als 1,4 Millionen Menschen leben.

Erst relativ spät gründete sich eine erste jüdische Gemeinde, nachdem Zar Alexander II 1865 ein Gesetz erlassen hatte, welches Juden mit Hochschulabschluss das Recht zusprach, sich in Estland anzusiedeln. 1883 wurde in der Hauptstadt Tallinn (Reval) die erste Synagoge gebaut, knapp zwanzig Jahre später wurde in der zweitgrößten estnischen Stadt Tartu (Dorpat) eine weitere eröffnet. Doch auch vor dem Zweiten Weltkrieg war die Gemeinde des nordbaltischen Landes nicht gerade riesig. 4.500 Mitglieder zählte sie vor dem Einmarsch der Deutschen im Jahre 1941. „Die Mehrheit floh vor den Nazis in die innere Sowjetunion, doch rund 1.000 Menschen fürchteten sich mehr vor den Sowjets als vor den Nazis und blieben in Estland“, so Cilja Laud. „Sie wollten nicht daran glauben, dass sie alle vernichtet werden.“


Unter SS-Obersturmbannführer Dr. Martin Sandberger wurden im September und Oktober 1941 zunächst alle männlichen Juden über 16 Jahren aufgespürt und im Nazi-Jargon „einer staatlichen Sonderbehandlung zugeführt“, im Klartext: Sie wurden ermordet. In den Folgemonaten tötete die SS dann Frauen und Kinder, insgesamt 936 Personen. Am 15. Dezember 1941 wurde Estland als erstes Land von den Nazis in ihrem Rassenwahn für „judenfrei“ erklärt. Estland galt ihnen als Vorbild für alle übrigen besetzten Länder, was ein Jahr später auf der Wannsee-Konferenz betont wurde. Die Redewendung, „bei Null anzufangen“ war somit für die vor genau 60 Jahren nach Estland zurückkehrenden, überlebenden Gemeindemitglieder weit mehr als eine Floskel.

„Heute können wir aber wieder von uns sagen, ein reges, kulturelles Leben zu führen“, sagt Laud, die im vergangenen Jahr für ihre Arbeit vom estnisches Präsidenten Arnold Rüütel mit dem „Orden vom weißen Stern“, der höchsten Auszeichnung Estlands, geehrt wurde. Eine jüdische Studentenorganisation und der Sportclub Maccabi, ein Kinderchor und ein Sozialzentrum, das sich Alten und Kranken widmet, Englisch, ein Veteranenbund und eine Frauenorganisation, ein Tanzensemble und ein Filmclub - die Liste der Aktivitäten ist lang, der Weg dorthin war beschwerlich.

Zu Sowjetzeiten wurden sämtliche religiösen Vereinigungen und Minderheiten unterdrückt. Erst 1988 gründeten etwa 100 jüdische Einwohner Estlands die Jüdische Kulturgemeinschaft, die erste unabhängige jüdische Organisation in der Sowjetunion, deren traditionelle Symbole, Davidstern und die Menora offiziell anerkannt wurden. Ein Jahr später erschien in der sich auflösenden Sowjetunion eine zweite Novität. Die erste Ausgabe von „Hashachar“ wurde gedruckt und verbreitete sich als erste jüdische Zeitung von Estland aus in alle Teile der Sowjetunion. Ein weiteres Jahr später begann der russischsprachige Radiosender „Radio 4“ mit der Ausstrahlung der Sendung „Shalom Aleychem“, die sich den wachsenden Aktivitäten der Jüdischen Kulturgemeinschaft Estlands widmete. 1992 wurde schließlich eine neue jüdische Gemeinde gegründet.

Das dreigeschossige, gelbe Gebäude, in dem sich die Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde befinden, war schon vor dem Krieg im Besitz der Gemeinde. Das ehemalige Tallinner Jüdische Gymnasium beherbergt auch heute eine Schule und im Anbau neben dem Gemeinschaftszentrum Dor-va-Dor und Büroräumen auch eine neue Synagoge, die Ende 2000 eröffnet wurde. So ganz zufrieden ist Cilja Laud mit der Lage der Synagoge im zweiten Stock des Gebäudes nicht, man sammle bereits für den Bau einer anderen Synagoge.

Trotz aller Aktivitäten hat auch die estnische Gemeinde mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen. „Nur 35 Prozent unserer Mitglieder bezeichnen Estnisch als ihre Muttersprache, alle anderen sprechen russisch“, erklärt Cilja Laud. Von diesen Gemeindemitgliedern hätten die meisten keinen estnischen Pass und seien arbeitslos. Ein wenig problematisch sei auch, dass sich die jüdische Gemeinschaft weitestgehend auf die Hauptstadt Tallinn beschränke und die vier anderen lokalen Gemeinden in Tartu, Pärnu, Narva und Kohtla-Järve verschwindend klein sind.

„Vor ein paar Jahren hatten wir noch 150 Mitglieder, heute sind es nur noch 77“, bestätigt Ilona Smuškina von der jüdischen Gemeinde Tartu, der zweitgrößten estnischen Stadt. „Die meisten sind älter als 60 Jahre, 90 Prozent sind schon in Rente.“ Zwar funktioniere das Sozialzentrum der Gemeinde gut, doch von kulturellen Veranstaltungen ist nicht mehr viel übrig geblieben.

Was den Kontakt mit der übrigen Bevölkerung betrifft, fühlen sich die Juden in Estland sehr wohl. Bereits in den 1920er Jahren, in der Phase der ersten Unabhängigkeit Estlands, wurde das Land für seinen vorbildlichen Umgang mit seiner jüdischen Minderheit vom jüdischen Nationalfonds ausgezeichnet. An diese Tradition knüpft das Land seit der Rückgewinnung der Selbstständigkeit wieder an. „Die Esten sind ein sehr tolerantes Volk, von Übergriffen auf jüdische Gemeindemitglieder habe ich noch nie etwas gehört“, so Ilona Smuškina und fügt nach ein paar Sekunden hinzu: „Wenn ich in Russland leben würde, wäre ich sicherlich schon vor 30 Jahren nach Israel, die USA oder Deutschland geflohen. Doch ich habe das Glück, in Estland zu leben.“

*** Ende ***


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