Estland

Bundespräsident Köhler in Tartu. Unikate aus dem Mittelalter


Tallinn (n-ost) - Das Lieblingstier von Eve Alttoa ist ein Drache. Nicht irgendein Drache, sondern eine auf dem Kopf liegende 30 cm lange und rund 15 cm hohe Figur aus Terrakotta. Lange Zeit hat sie mit ihm zugebracht, denn Eve Alttoa ist Restauratorin und der Drache ist eine von rund 1.000 Figuren der mittelalterlichen "Jaani Kirik", der Johanniskirche in Tartu, die sie zu konservieren hat. Eine Aufgabe, die die zierliche blonde Frau als ihr Lebenswerk bezeichnet.



Ihre Arbeit hat eine tragische Vorgeschichte: 1944 war die mittelalterliche Backsteinkirche der südestnischen Stadt von sowjetischen Bomben zerstört worden. Jahrelang lag sie in Trümmern, nur noch die Außenwände und der Turmrumpf standen, als 1989 zunächst polnische Restauratoren mit dem Wiederaufbau des gotischen Gotteshauses begannen. Damals hegte man Pläne, die Kirche in einen Konzertsaal zu verwandeln. Doch nachdem die Estnischen Republik 1991 wieder selbstständig wurde, verwarf man diese Idee. Seither arbeitet man daran, der Kirche ihr ursprüngliches Antlitz zurückzugeben.



Mit der feierlichen Einweihung der Kirche, an der auch Bundespräsident Horst Köhler teilnimmt, wird das estnische-deutsche Wiederaufbauwerk als Projekt der Freundschaft beider Länder gewürdigt. "Wer allerdings hofft, bereits alle Skulpturen, die einstmals das Innere und Äußere der Kirche schmückten, betrachten zu können, der muss in 15 Jahren wieder kommen", schätzt Restauratorin Alttoa. "So lange werde ich wohl noch brauchen, um alle Figuren vollständig zu konservieren."



Seit Mitte der 90er Jahre ist sie damit beschäftigt, die Terrakotten zu ordnen, Mörtelreste zu entfernen, Salzkompressen anzulegen. Zu vielen Figuren hat sie eine Beziehung aufgebaut, wie zu dem Drachen, der ihr persönliches Logo geworden ist und ihre Visitenkarte schmückt. "Jede einzelne Skulptur ist ein Unikat. Es gibt kein anderes Bauwerk, das der Johanniskirche in der Anzahl der Skulpturen, ihrer Größe und Machart auch nur annähernd gleich kommt", erläutert sie während sie mit einem Wattestäbchen eine Kopfskulptur reinigt.



Eve Alttoa steht mit ihrer Meinung nicht alleine da. Gerade aufgrund der Ganzkörper- und Halbfiguren, der Ornamente und Kopffriese, der Phantasietiere und Blumen, die das sonst schlichte Gebäude schmücken, gilt die Johanniskirche als eine der schönsten Perlen mittelalterlicher Baukunst in Nordeuropa. Das sahen auch Institutionen im Ausland so: Die Restaurierung der Figuren wurde vom deutschen Innenministerium initiiert und auch der World Monuments Fund sowie die Samuel H. Kress Foundation in

New York unterstützten die Arbeit.



"Anfang des 14. Jahrhunderts wurden die Figuren aus Tonblöcken geschnitzt und geformt", erklärt Eve Alttoa, und zeigt auf die vielen verschiedenen Köpfe, die in ihrer Werkstatt in Regalen aufgereiht sind. "Einige stellen biblische Figuren dar, aber auch gekrönte Häupter und Porträts reicher Stadtbürger finden sich darunter." Ornamente und Tiere, wie ihr Drache, schmückten die Kapitelle der Säulen, über dem Hauptportal und dem Triumphbogen des Mittelschiffs sind das jüngste Gericht dargestellt, reihum blicken Gesichter auf die Besucher der Kirche hinab.



Eve Alttoas Werkstatt, die gleich neben der Kirche liegt, wurde von der Nordelbischen Landeskirche in Kiel finanziert, die neben dem estnischen Staat, der Stadt Tartu und deren Partnerstadt Lüneburg zu den Hauptgeldgebern für den Wiederaufbau gehören. Viele der Unterstützer sind mit dem Bundespräsidenten angereist, um die Kirche zu bewundern. Immerhin 200 Terrakotten können sie bereits betrachten. Die Außenskulpturen wurden

allerdings durch Kopien ersetzt, damit die mühsam konservierten Originale nicht wieder von Luftschadstoffen zerstört werden. "Aber wir möchten, dass alle Figuren in der Kirche bleiben und nicht etwa in Museen verschwinden", sagt die Restauratorin. Die Außenoriginale werden deshalb auf Regalen im Kircheninneren ausgestellt werden.



Die feierliche Eröffnung der Johanniskirche geht nahtlos in ein anderes großes Fest über. Ab 30. Juni feiert Tartu nämlich die internationalen Hansetage, deren offizielles Symbol - wie soll es anders sein - eine Terrakotte aus Eve Alttoas Werkstatt ist.





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