Estland

Die Kinder von Kopli


Tallinn (n-ost). Die estnische Hauptstadt Tallinn lockt Touristen mit einem nahezu komplett erhaltenen mittelalterlichen Innenstadtensemble, mit Speichern und Gildehäusern, Kirchen und spitzgiebeligen Häuserreihen. 1997 wurde all dies von der UNESCO unter Schutz gestellt. Auch Solveig Kindt kennt diese wunderschöne Seite von Tallinn. Die 18-jährige Deutsche besucht seit einigen Jahren regelmäßig das nordbaltische Land. So auch dieses Jahr. Doch die Schülerin der Freien Waldorfschule Hannover-Maschsee ist nicht hier, um Urlaub zu machen, sondern um nach Kopli zu fahren. Ein Stadtteil, der sich nur zwei Kilometer nordwestlich vom Stadtzentrum entfernt auf einer Landzunge in die Ostsee erstreckt und der nicht so recht in das Bild des baltischen Tigerstaates, der Internetnation und zu der jungen, aufstrebenden Bevölkerung zu passen scheint.

In Kopli leben die, die in der Innenstadt keiner sieht: Alkoholiker, Drogenabhängige, Staatenlose, verschuldete Rentner oder allein stehende Mütter, die sich von den paar Euro Kindergeld nicht über Wasser halten können. Wirkt die Altstadt Tallinns wie ein Freilichtmuseum, so könnte Kopli als Kulisse für einen Endzeitfilm dienen, einen Film der das Ende der menschlichen Zivilisation beschreibt.

Hier wohnt Valja Maljug, eine hübsche, blonde Frau, 21 Jahre jung, im siebten Monat schwanger und Mutter einer dreijährigen Tochter. Mit drei anderen Frauen und zwei weiteren Kleinkindern teilt sie sich ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in einem Haus, das mehr einer Müllkippe als einer Unterkunft gleicht. Kein fließendes Wasser, keine Sanitäranlagen, keine Heizung, kein Strom, stattdessen Obdachlose, die sich im Treppenhaus niederlassen, Müll und ein durchdringender Uringeruch. Von den umgerechnet 100 Euro, die sie im Monat bekommt, kann Valja kaum überleben, deshalb haben sie und die anderen sich in dem abrissreifen Plattenbau niedergelassen. Ein altes Bett, ein paar Poster an der Wand, Heiligenbilder und Blumen auf dem Regal - kleine Versuche, das Leben in Kopli irgendwie erträglich zu machen. "Seit zwei Jahren wohnen wir hier. Vorher haben wir in der Innenstadt gewohnt, aber wir konnten die Wohnung nicht mehr bezahlen und irgendwann sind uns die Mietschulden über den Kopf gewachsen", erzählt Valjas Schwester Tatjana, die mit ihr die Bleibe teilt.

Heute haben die Schwestern Besuch. Besuch von Solveig und neun anderen Schülern aus Hannover. Lebensmittel haben die Gäste mitgebracht, Brot,
Margarine, Würstchen, Bananen, Fischkonserven und Schokoriegel. Außerdem Windeln für die Kinder und fünf Kerzen für die Nacht. Vier Euro kostet ein derartiges Lebensmittelpaket. 50 Stück haben die Jugendlichen dabei, bezahlt von eigens dafür verdientem Geld. "Daheim in Hannover erledigen wir Gartenarbeiten, veranstalten Basare und Buffets oder helfen bei Umzügen, um Geld für Estland zu verdienen", sagt Solveig und fährt sich mit der Hand durch die schulterlangen braunen Locken. Vor ein paar Jahren sei Schülern der Waldorfschule die Idee gekommen, sich sozial zu engagieren. Etwas zu tun, was sinnvoll ist. Hinter dem man steht. "Vor allem war unser Anliegen, Geld dorthin zu investieren, wo es nötig ist, und dass wir wissen, wohin es fließt", erklärt die Schülerin der 12. Klasse. Aus diesen Überlegungen entstand das Projekt "Elagu-elu", was übersetzt soviel heißt wie "es lebe das Leben".

"Es war uns wichtig, Kontakt zu den Leuten zu haben, denen wir helfen. Denn nur so kann man eine Entwicklung beobachten", fügt der 20-jährige Justus Riedlinger hinzu, ein selbstbewusster junger Mann, der bereits zum vierten Mal mit seinen Klassenkameraden nach Estland reist. Auch die Reisekosten bezahlt er aus eigener Tasche. Zustande gekommen ist der Kontakt ins Baltikum durch eine ehemalige Lehrerin, Ulrike Langescheid, die seit 1993 ständig als Lehrerin zwischen Hannover und Tallinn pendelte. 2004 hängte sie ihren Job schließlich an den Nagel und arbeitet seither als Entwicklungsleiterin in Peeteli, einem Sozialzentrum, das von dem engagierten Pastor und heutigem Mitglied des estnischen Parlaments, Avo Üprus ins Leben gerufen wurde.

In einem kleinen Raum gibt es heißen Tee für Obdachlose und Bedürftige, ein paar Duschen und Toiletten, eine Waschmaschine, die auch Valja und ihre Schwester in Anspruch nehmen. Doch hauptsächlich dient das Sozialzentrum Peeteli als Anlaufstelle für Straßenkinder. Kinder, die schon im Alter von drei Jahren auf sich alleine gestellt sind. Die in Häusern wie das von Valja rumlungern, stehlen, Kleber schnüffeln oder härtere Drogen nehmen. Kinder, die der estnische Staat weitestgehend ignoriert, da es sie offiziell nicht gibt. "Die meisten haben keinen Pass, sind russischer Herkunft", so Ulrike Langescheid, "doch zunehmend gibt es auch immer mehr estnische Kinder auf den Straßen, die es bei ihren meist allein erziehenden, alkoholabhängigen Müttern oder Vätern nicht mehr aushalten."

Ihnen bietet das Sozialzentrum ein Dach über den Kopf, vorausgesetzt, sie bleiben clean und gehen wieder zur Schule. 15 Kinder und Jugendliche wohnen hier, anderen steht es als Tageszentrum zur Verfügung. Der neunjährige Timo, der die Schläge zu Hause nicht aushielt und seit drei Jahren hier wohnt. Die 16-jährige Ani, die mit dem Lebensgefährten ihrer Mutter nicht klar kam und auf die Straße flüchtete. Der 18-jährige Oleg, der Waise ist.

Kinder und Jugendliche, die so alt sind wie Solveig und ihre Schulkameraden - oder gar jünger. Ihnen zu helfen, ist den Schülern aus Hannover besonders wichtig. Deshalb beschränkt sich ihr Engagement nicht nur auf Lebensmittelpakete, sondern beinhaltet auch körperliche Arbeit. Allerdings nicht in Tallinn, sondern auf der rund 150 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt gelegenen Ostseeinsel Saaremaa (Ösel), wohin die Gruppe nach zweitägigem Aufenthalt in Kopli und Peeteli aufbricht. Dort, dem estnischen Urlaubstraum, bauen die Schüler ein Haus. Ein Haus für die Kinder aus Tallinn, die auch ein Recht auf ein paar Ferientage haben sollen. Über den Sommer schließt nämlich das Sozialzentrum Peeteli und die Jugendlichen sind wieder einer zum Teil kriminellen Umgebung und dem verführerischen Einfluss von Drogen ausgesetzt. Deshalb packen die Schüler aus Hannover an - Solveig, die wieder herkommen will, Justus und Liam, natürlich auch Lehrer Wolfgang Kelwing, der die Gruppe begleitet und Tischler Henning Stricks, ein ehemaliger Schüler der Waldorfschule.

Und während sie ein Plumpsklo bauen und die Wände verkleiden, den Fußboden verlegen und eine Spüle installieren, zeigen ihnen die Gesichter von Vadim und Boris, zwei sechszehnjährigen ehemaligen Straßenkindern, die schon vor Jahren in Peeteli unterkamen und nun die Deutschen nach Saaremaa begleiten, dass sie das Richtige tun. "Hier auf Saaremaa fühle ich mich wohl. Hier kann ich helfen, hier kann ich arbeiten", sagt Boris. "In zwei Jahren bin ich mit der Schule fertig, vielleicht arbeite ich danach im Bauwesen." Boris hat wieder eine Perspektive. Dafür, finden auch die deutschen Jugendlichen, lohnt es sich, in und für Estland zu arbeiten.

Spenden nehmen die Schüler der Waldorfschule gerne entgegen: FWS Hannover-Maschsee e.V., Spendenkonto elagu-elu, Sparkasse Hannover, BLZ 25050180, Konto-Nr. 348260.

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