„In Ungarn wäre ich heute pleite“
Otto Simma hat in seiner Schreibtischschublade eine Landkarte. Immer wenn der deutsche Textilhersteller zweifelt, misst er darauf nach. 15 Kilometer sind es von seinem Firmenstandort in der rumänischen Stadt Satu Mare bis zur ukrainischen Grenze. Vielleicht sollte er den Schritt wagen und weiter nach Osten ziehen? Der Wettbewerb in der Branche sei hart, sagt Simma: „Hätte ich vor zehn Jahren in Ungarn investiert, wäre ich heute pleite.“
Noch setzt der 44-jährige Unternehmer auf Rumänien. In Satu Mare lässt Simma Strickwaren für deutsche Modefirmen produzieren. Rund 350 Frauen arbeiten in den Werkshallen im Akkord. „Ich könnte glücklich sein“, sagt der Unternehmer von sich. Wären da nicht die Zweifel und die nach seinen Worten „frustrierende Vergangenheit“. Bis Mitte der 90er Jahre ließ der Firmenchef im baden-württembergischen Kreis Biberach produzieren. Strickwaren „Made in Germany“ - 40 Jahre lang. Ein Grund zum Feiern. Doch statt Sekt reichte der Unternehmer die Kündigungen an die rund 100 Mitarbeiter weiter.
Mit dem Neuanfang in Rumänien entschied sich Simma, östlicher als die Konkurrenz zu investieren. Heute zahlt sich die Entscheidung für ihn aus. Seit ein paar Monaten erhält er Aufträge, die bislang an ungarische Textilfirmen gingen. Simmas Strickwaren sind schlichtweg preiswerter. In seinem Werk zahlt er Nettolöhne von 150 Euro im Monat, die Arbeiterinnen gehören damit zu den billigsten Arbeitskräften in Europa. Die Lohnkosten in Ungarn liegen im Vergleich drei Mal höher, in Deutschland sind sie beinahe zehn Mal so hoch.
Die niedrigen Lohnkosten haben längst mehrere tausend deutsche und österreichische Firmen ins Land gelockt. Ihre Investitionen sind vielfältig. So lassen die Firmen beispielsweise Autoteile, Textilien oder Zement produzieren, Software entwickeln und sind am Erdöl-, Strom- oder Kapitalmarkt beteiligt. „Mit dem globalen Preisdruck hat der Westen erkannt, dass auch die Menschen in Rumänien lesen und schreiben können“, sagt Dirk Rütze, Geschäftsführer der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer in Bukarest.
Mit über acht Prozent erzielte Rumänien im vergangenen Jahr das größte Wirtschaftswachstum in Europa und lockte mit vier Milliarden Euro die meisten ausländischen Direktinvestitionen in Osteuropa an. Dennoch: „In Rumänien warten noch Millionen Menschen darauf, in einer modernen Fabrik zu arbeiten“, sagt Kammer-Geschäftsführer Dirk Rütze. Angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage erwarten Wirtschaftsexperten, dass rumänische Arbeitnehmer auch nach dem EU-Beitritt 2007 für weitaus geringere Löhne arbeiten, als ihre Kollegen aus anderen EU-Ländern. Trotz ihrer niedrigen Einnahmen seien „die Menschen hoch motiviert, weil sie für ihre Familien Wohlstand wollen“, sagt Rütze. „In Rumänien herrscht eine Aufbruchstimmung wie 1955 in Deutschland“.
Schichtwechsel bei Dräxlmaier. Das niederbayerische Unternehmen lässt in Rumänien Kabelsätze für den Automobilkonzern DaimlerChrysler produzieren. Tausende Menschen strömen aus dem Werk in Satu Mare und müssen am Ausgang ihre Taschen vorzeigen. Anweisung der Firmenleitung. „Wir wollen zum Schluss nicht mit der halben Fabrik dastehen“, sagt Produktionschef Ulrich Lübeck. Mit landesweit fünf Werken ist Dräxlmaier der größte deutsche Arbeitgeber in der Automobilzulieferbranche in Rumänien. Im Werk in Satu Mare arbeiten allein rund 3.400 Beschäftigte, die im Durchschnitt monatlich rund 260 Euro Brutto verdienen. In den vergangenen Jahren hat das Unternehmen personalintensive Produktionsabläufe aus anderen osteuropäischen Ländern nach Rumänien verlagert. „Die Löhne im Nachbarland Ungarn sind nicht mehr wettbewerbsfähig für uns“, sagt Produktionsleiter Lübeck. Allerdings: Weil einfache Lohnarbeiter in der Ukraine und Moldawien noch weniger kosten, beginnen einige Firmen schon weiter zu ziehen. „Ein Trend, den wir als Automobilzulieferer vorläufig nur beobachten“, sagt Produktionschef Ulrich Lübeck. „Wir eröffnen schließlich in Rumänien nicht modernste Werke, um sie ein Jahr später wieder zu schließen.“
Der österreichische Handelsdelegierte Walter Friedl berät in Bukarest Unternehmer seines Landes, wenn sie nach Rumänien kommen wollen. In den vergangenen Monaten hat er so manchen Firmenchef über Ungarn klagen hören. Dort fehle eine investorenfreundliche Stimmung. „Als dann auch noch das Lohnniveau stieg, sind viele Österreicher nach Rumänien gekommen und haben ihre Werke in Ungarn zugesperrt“, sagt Friedl. Österreich ist seit dem vergangenen Jahr die Nummer eins der ausländischen Investoren in Rumänien. Vorzeigeinvestition ist dabei die Übernahme des rumänischen Erdölriesens Petrom durch den österreichischen Öl- und Gaskonzern OMV. 1,5 Milliarden Euro sind für die 51 Prozent Anteile geflossen. „Hätte OMV nicht nach Osten expandiert, wäre der Konzern vermutlich eines Tages selbst ein Übernahmekandidat geworden. Osteuropa ist für viele Firmen zu Hause wieder eine Konjunkturchance“, sagt der Handelsdelegierte. Neu-Investoren, die lediglich preiswerte Exportware fertigen lassen, rät Friedl unterdessen von Rumänien ab. „In wenigen Jahren ist der Billiglohnbonus des Landes aufgebraucht.“ Wer langfristig Gewinne machen wolle, müsse für den rumänischen Binnenmarkt produzieren. „Schließlich wollen die Leute das Geld, das sie bald verdienen, auch wieder ausgeben“, sagt Walter Friedl.
Textilhersteller Otto Simma bringen derartige Ratschläge ins Grübeln. Soll er weiter nach Osten ziehen, in unerschlossene Regionen, wo preiswerte Arbeitskräfte auf Investoren warten? Erst Biberach, jetzt Satu Mare, bald Lemberg? In Simmas Werk arbeitet die 47-jährige Näherin Eleonora Micla. Sie hat den Job schon seit zehn Jahren, so manches bessere Angebot hat sie ausgeschlagen. Nun ist sie es, die wie früher die Beschäftigten in Biberach um ihren Job bangt. „Wenn der Chef geht, pack ich meine Sachen“, sagt sie. „Und suche mir dann eine Arbeit in Deutschland."