Wer ist der „Größte"?
von Boris Blahak (E-Mail: borisblahak@hotmail.com, Tel.:0048-81-747 65 44)
Ist es nun ein Beitrag zu Europa oder nicht? Kurz nach dem Jahrestag ihres EU-Beitritts bewegt die europamüde tschechische Öffentlichkeit scheinbar weniger die Frage, was man in den letzten zwölf Monaten gewonnen hat. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht eine inszenierte national-nostalgischer Retrospektive. Vor aller Augen scheint sich die nationale Selbstfindung mit ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert eben noch schnell vollenden zu wollen.
Seit Monaten wird landesweit in allen Medien für ein Fernseh-Spektakel geworben, auf das unverkennbar der lange Schatten von - zugegeben inzwischen „gesamteuropäischen“ - TV-Superstars-Shows fällt: Man hat die großen Staatsmänner, Dichter und Denker der vergangenen Jahrhunderte aus den Gräbern geholt und sie unter Schlagwörtern wie „Vater der Heimat“, „Lehrer der Nation“ oder „Heiliger Kämpfer“ auf Werbeflächen und Bushäuschen plakatiert und so das Medienpublikum des Landes aufgerufen, per SMS, Internet oder Post den „Größten aller Tschechen“ zu wählen. „Je toter, desto größer“ scheint sich dabei als Faustregel etabliert zu haben.
In einer Nominierungsphase bis Ende Mai bestimmen 130 000 Tschechen ihre jeweiligen Favoriten, deren Top 100 am 5. Mai im TV-Kanal CT1 präsentiert wurden. Die zehn Meistgenannten stellen sich dann Anfang Juni erneut der Wahl des Publikums, bevor in einem großen Showdown am 11. 6. endgültig der „Größte Tscheche“ ausgerufen wird. Klar ist bisher lediglich, dass es Regisseur Milos Forman, Kaiserin Maria Teresia und Eishockeystar Jaromír Jágr unter die Top 100 geschafft haben, Pornostar Dolly Buster ist dagegen bereits gescheitert.
„Die Tschechen haben sehr besonnen gewählt, es gibt nichts, wofür man sich schämen müsste“, meint Marek Erben, der Moderator der Nominierungs-Gala. Er kaschiert aber damit, dass der tschechische Kanal CT1 einen der Top 100 - Jára Cimrman - aus der Wertung genommen hat. Schlicht und einfach, weil dieser nie existiert hat. Der Ausschluss des beliebten fiktiven Volkshelden hat eine groteske Protestwelle von Fans nach sich gezogen. Die Veranstaltung bleibt nun nicht ohne harsche Kritik: Der Künstler Zdenek Mézl bezeichnete „das mediale Schneegestöber als paranoide Erscheinung des Zustands der Gesellschaft“. Und der Journalist Zdenek Hrabica spöttelte, dass die Tschechen das von den Briten im Jahr 2002 erfolgreich als „bewusste Übertreibung mit einem beträchtlichen Sinn für britischen Humor“ eingeführte Fernsehformat ihrerseits nun „tödlich ernst“ nähmen.
Vielleicht zeigt sich das Fernsehpublikum im Lande des offen europaskeptischen Präsidenten Václav Klaus entgegen aller Unkenrufe ein Jahr nach dem EU-Beitritt am Ende doch europäischer als man glaubt. Tschechische Mittelschüler, also Teenager, haben es den Erwachsenen in einem Begleitprojekt zur Fernsehshow zumindest vorgemacht: Sie wählten nämlich einen wahrhaftigen Europäer zu ihrem „größten Tschechen“: den polyglotten deutschen Kaiser und böhmischen König Karl IV., der – von französisch-luxemburgischer Herkunft - erwiesenermaßen keinen Tropfen tschechischen Blutes in den Adern hatte.
*** Ende ***
Boris Blahak