Polen

"Hass zerstört nur"

Lodz (Polen) (n-ost) – Leise weht die Melodie des Trauermarsches von Chopin in die starren Gesichter der 50 Angehörigen und Freunden hinüber, die sich um das Grab von Zygmunt Makowski versammelt haben. Der Freitagmittag ist warm. Zwei Männer und eine Frau stehen hinter dem Pfarrer und halten eine große Fahne in die Höhe. Kräftig läßt die Sonne den blau-weiß gestreifte Samtstoff mit dem großen P für Pole auf dem roten Dreieck strahlen. Es sind Vertreter der Organisation ehemaliger KZ-Häftlinge, die ihrem verstorbenen Kameraden die letzte Ehre erweisen.

Dies wird nicht die letzte Beerdigung eines Kameraden sein, an der Zygmunt Kauc teilnimmt. Er ist der Leiter des sozialmedizinischen Zentrums für ehemalige KZ-Häftlinge in Lodz, das vom Freiburger Maximilian-Kolbe-Werk finanziert wird. Auch in Krakau unterhalten die Freiburger ein Betreuungszentrum. Außerdem versuchen sie mit Hilfstransporten und vielfältigen Aktionen auch ehemalige KZ-Häftlinge in Russland, Weißrussland, der Ukraine und im Baltikum zu unterstützen. „Es war für die Häftlinge sehr wichtig zu sehen, dass sich Deutsche für ihre Lage interessieren und ihnen helfen wollen”, erklärt Zygmunt Kauc in seinem kleinen Büro in Lodz. Heute leben von den 3600 ehemaligen Häftlingen in Lodz nur noch 625 Männer und Frauen. Je älter sie werden, desto dringender benötigen sie Hilfe. Im Zentrum arbeiten deshalb ein Orthopäde, ein Urologe, ein Neurologe und eine Krankenschwester für die Menschen, die noch kräftig genug sind, den Weg hierher auf sich zu nehmen. Auch den Schwächeren wird durch Hausbesuche oder „Essen auf Rädern” weitergeholfen.

„Vor 16 Jahren, als wir mit der Arbeit hier anfingen, waren wir alle noch richtig jung”, sagt der inzwischen 81-jährige Kauc in perfektem Deutsch und lacht verschmitzt. „Jetzt werden wir immer kleiner und älter”. Über einer Sitzecke im Aufenthaltsraum strahlt das Bild des Franziskanerpaters Maximilian Kolbe, der 1982 von Papst Johannes Paul II. als „Märtyrer der Versöhung” heilig gesprochen wurde. Er ist der Schutzheilige aller KZ-Häftlinge, nachdem er für einen Mitgefangenen in Auschwitz freiwillig in den Tod ging.

Im Vorraum des sozialmedizinischen Zentrums steht Zygmunt Jedrych und kontrolliert in einem kleinen Taschenspiegel seine Frisur. Stets gut gelaunt hilft er Frauen in den Mantel und macht ihnen nebenbei charmante Komplimente. Manchmal tanzt der 83-jährige zum Vergügen der Damen auch Boogie-Woogie. Vielleicht hat Zygmunt Jedrych 1945 den ersten Schrittt zur Aussöhung zwischen Deutschen und Polen getan. Damals verliebte er sich direkt nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau in Ela Langlinderer aus München. Drei Monate währte das kurze Glück, dann mußte er nach Polen zurück und konnte nicht wieder nach Deutschland einreisen. Seitdem hat er nichts mehr von ihr gehört. „Das Herz hört einfach nicht auf den Kopf”, sagt er und verschwindet schnell, um eine Besucherin herzlich zu begrüßen.

„Liebe Eltern, mir geht es gut. Ich arbeite freiwillig hier.” So fingen regelmäßig die zensierten Briefe aus dem Frauen-KZ Ravensbrück an die Familien zu Hause an. Auch die von Halina Burdowa, inzwischen 94 Jahre alt. Vom gelb-braunen Rauch der Krematorien, der sich dunkel färbte wenn Häftlinge mit einem Rest Fett am Körper verbrannt wurden, durfte man in ihnen nichts lesen. Trotz der dort erlebten Qualen verspürt sie keinen Hass. Viele deutsche Mitgefangene habe sie dort kennen und auch schätzen gelernt. Dass auch Deutsche Opfer der faschistoiden Gewaltmaschinerie wurden, macht die Auseinandersetzung mit den Taten des Nachbarn für die ehemaligen Häftlinge wesentlich leichter. Für die 94-Jährige war aber auch das christliche Gebot der Nächstenliebe entscheidend für eine Aussöhnung. „Ich bin eine gläubige Katholikin!”, sagt sie mit Entschiedenheit. Hinter ihr hängen Papstbilder und Marienstatuen an der Wand und auch der Fernseher dient inzwischen nicht mehr seinem eigentlichen Zweck sondern als Ablage für Ikonen und Kreuze. Nüchtern erzählt sie, wie sie am ersten Tag des gerade begonnen Krieges in der Nähe von Danzig verhaftet wurde. „Polonisierung deutscher Kinder” wurde der jungen Lehrerin vorgeworfen und man brachte sie bis zur Befreiung durch die Rote Armee nach Ravensbrück. Dort habe sie jeden Tag für alle Insassinnen gebetet.

„Nur der Glaube an das Paradies nach dem Tod gab uns die benötigte Kraft zum Überleben”, sagt sie mit Tränen in den Augen. Dann kramt sie aus einer alte Holzschachtel einen Brief von Johannes hervor. Der junge Deutsche war vermittelt durch das Maximilian-Kolbe-Werk für ein Jahr als Friedensdienstleistender im sozialmedizinischen Zentrum tätig und sie hatte ihn schnell in ihr Herz geschlossen. Als läse sie den Brief das erste Mal, freut sie sich über jeden Satz aus Deutschland. „Was für ein schlauer, junger Mann”, sagt sie stolz und man könnte meinen sie spricht über ihren eigenen Urenkel.

Gerade der Kontakt mit der jungen Generation liegt den Opfern am Herzen. Einige erzählen deshalb als Zeitzeugen an deutschen Schulen von ihrem Schicksal und dem schrecklichen Lageralltag. Damit machen sie die oft als abstrakt empfundene Geschichte des Dritten Reichs anschaulich und authentisch. Aber woher nehmen sie die Kraft, in einer Sprache mit den Schülern zu sprechen, die für sie jahrelang nur aus hingespuckten Worten wie „Dreckiger Pole!”, „Schneller, schneller!” oder einfach nur einer Nummer bestand?

Ein Grund mag das Alter vieler Inhaftierter gewesen sein, erklärt Zygmunt Kauc. Als Jugendlicher könne man die Erfahrungen besser verdrängen. Auch er hat die Schrecken am eigenen Leib erfahren müssen. Zwei Jahre war er im KZ-Stutthof bei Danzig inhaftiert und überlebte dort nur durch Glück den Flecktyphus. Nach der Befreiung wurde er auf dem Heimweg nach Lodz für weitere zehn Jahre in das russische Gulag Workuta verschleppt, da er sich als Pole weigerte, für die Rote Armee zu kämpfen. Viele seiner Kameraden hätten auch während der Haft gute Deutsche kennen gelernt, die ihnen Nahrung gaben oder leichtere Arbeit verschafften. „Es gibt nicht nur den bösen Deutschen, das haben wir schon früh zu differenzieren gelernt”, erklärt er. Sein eigenes Credo speist sich aus der ureigenen Lebenslust eines Überlebenden: „Haß zerstört nur – zuerst einen selbst!”

Nie darf jedoch vergessen werden, was geschehen ist. Deshalb sind die Gedenktage, wie sie derzeit überall begangen werden, für die Überlebenden so wichtig. An ihnen läßt sich nicht nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit messen, sondern auch die Verarbeitung und Einstellung der Opfer ablesen. Die Feier zum 60.Jahrestag der Befreiung des Übergangslagers Radogost bei Lodz ist eine stille Zusammenkunft. Nur die drei Salutschüsse der jungen polnischen Soldaten donnern laut in den Himmel über den ehemaligen Apellplatz.
Bei der Kranzniederlegung reihen sich hinter die offiziellen Vertreter mehrere Schülergruppen ein. Sichtlich nervös legen sie Osterglocken in einem Halbrund um den Gedenkstein bevor sie fast militärisch zackig auf dem Absatz kehrt machen und hinter der Absperrung zwischen den Zuhörern verschwinden. Am Ende der Feier stürmen sie wieder hinter ihr hervor und streiten sich um die Patronenhülsen der abgeschossenen Gewehrsalven. Eine Gruppe Überlebender schaut dabei aufmerksam zu. In ihren Blicken spiegelt sich die Hoffnung, dass die Hülsen nicht das einzige sind, was die Jugendlichen von diesem Tag mit nach Hause nehmen.

Helena Najberg konnte an der Gedenkveranstaltung nicht teilnehmen. Dafür geht es ihren Beinen zu schlecht. Mühsam schleppt sich die 80-jährige Dame durch ihr geräumiges Wohnzimmer, mit den Händen nach Halt suchend. Am Sofa angekommen läßt sie sich mit einem lauten Seufzer fallen. Dann zündet sie sich eine der extra dünnen Zigaretten an, zieht gierig den Rauch ein und atmet gelöst wieder aus. Für Frau Najberg war die Aussöhnung mit Deutschland nicht einfach. „Direkt nach dem Krieg hätte ich jedesmal aus dem Fenster springen können, wenn ich diese Sprache gehört habe”, erzählt sie. Inzwischen ist das anders. Nun kann sie auch Filme wie „Der Pianist”, der im KZ Auschwitz spielt, anschauen, ohne zusammen zu brechen. Auch ihr Leidensweg ist mit diesem KZ verbunden. Sie überlebte die Lager Theresienstadt und Auschwitz, nachdem sie als Jüdin für vier Jahre in das Ghetto Litzmannstadt eingepfercht wurde. „Meine restliche Familie hat den Holocaust nicht überlebt”, sagt sie nüchtern und zündet sich noch eine Zigarette an. Durch die persönlichen Krankenbesuche ehrenamtlicher Helfer des Maximilian-Kolbe-Werks sei ihr jedoch klar geworden, dass es auch in Deutschland Menschen gibt, denen das Wohlergehen Überlebender am Herzen liegt. „Wäre ich noch gesund”, sagt sie zum Schluß, „Ich würde sofort nach Deutschland fahren und mir dieses Land und seine Menschen anschauen.”

Ende




Weitere Artikel