„Der Beginn einer immensen Katastrophe“
Vilnius (n-ost) - Als im Mai 1945 der Zweite Weltkrieg endlich ein Ende fand, fing für Valentinas Markusis (Name geändert) der Kampf erst richtig an. Der damals 17-jährige Schüler wohnte nämlich nicht in Westeuropa, das die Alliierten soeben vom Nationalsozialismus befreit hatten, sondern in Litauen. Zwar waren die Nazis schon ein ganzes Jahr aus Litauen vertrieben worden. Doch der Einmarsch der Roten Armee 1944 bedeutete für das baltische Land keineswegs die ersehnte Freiheit und Rückkehr zur Unabhängigkeit, sondern vielmehr der Beginn einer 50 Jahre langen Okkupation mit Deportationen, Verhaftungen und Unterdrückung.
„Mein Vater war schon vor dem Krieg im Schützenverein gewesen, deshalb wurde er gleich im Januar 1945 von den Sowjets als antisowjetischer Heimatverräter verhaftet“, erzählt Markusis und selbst heute, 60 Jahre später, verfinstern sich seine Augen, wenn er an die damalige Zeit zurückdenkt. Die Verhaftung des Vaters und die Liebe zum Vaterland führten dazu, dass sich der heute 77-Jährige entschloss zu kämpfen. Im Krieg nach dem Krieg, wie er in Litauen genannt wird. Einem Krieg, der von litauischen Freiheitskämpfern bis nach Stalins Tod 1953 gegen die verhasste sowjetische Besatzung ausgetragen wurde. „Ich war davon überzeugt, dass ich nicht passiv zusehen durfte, wie die heimatlichen Werte verhöhnt wurden“, meint Markusis zurückblickend. Er selbst kämpfte ein Jahr an der Seite der Partisanen, dann wurde er verhaftet und nach Sibirien gebracht. Zurückkehren in seine Heimat durfte er erst sieben Jahre später.
Die Einladung Russlands an Litauens Präsidenten Valdas Adamkus, am 9. Mai den 60. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau zu feiern, ist für Markusis der blanke Hohn: „Warum sollte unser Präsident nach Moskau fahren, um das Kriegsende zu zelebrieren? Russland hat uns unterjocht und 1945 ging für uns der Krieg nicht zu Ende. Es war stattdessen der Anfang einer immensen Katastrophe.“ Viele Litauer sind der gleichen Ansicht. „Die Verbrechen der Nazis, die von 1941 - 44 Litauen besetzt hatten, verblassen im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung angesichts der langen sowjetischen Okkupation“, erklärt Joachim Tauber, der am Nordost-Institut in Lüneburg arbeitet und Mitglied der internationalen Kommission zur Erforschung der Nazi- und Sowjetverbrechen in Litauen ist. „Für viele Litauer war der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, als Litauen zum ersten Mal unter sowjetischer Besatzung stand, eine Befreiung. Als die Nazis in Litauen einmarschierten, wurden sie zunächst als Retter begrüßt.“
Nachdem die Sowjets bereits vor Einmarsch der Deutschen innerhalb eines Jahres 5.000 führende Persönlichkeiten des Landes ermordet oder in Todeslager gebracht hatten und 19.000 Bürger deportiert wurden, hegte man zunächst die Hoffnung, die Deutschen würden die ersehnte Unabhängigkeit und den Frieden zurückbringen. Eine Fehleinschätzung. Was für die Sowjets der Klassenkampf war, war für die Nationalsozialisten der Rassismus. Über 160.000 jüdische Litauer wurden innerhalb eines halben Jahres getötet, die rund 40.000 Überlebenden wurden in Ghettos zur Zwangsarbeit gezwungen.
Zu den überlebenden Opfern der Nationalsozialisten gehört auch die Mutter von Emanuelis Zingeris. Für den 48-jährigen Politiker, der im litauischen Parlament sitzt und im vergangenen Jahr ein jüdisches Toleranzmuseum in der Hauptstadt Vilnius eröffnet hat, ist der Verlust der jüdischen Kultur bis heute schmerzhaft. „Mit über 80 Synagogen, einem regen Theaterleben
und einer Mischung aus jiddischer, hebräischer, polnischer, weißrussischer und litauischer Sprache war Vilnius wie ein europäischer Cocktail.“ Dennoch akzeptiert er die Entscheidung Adamkus’, nicht nach Moskau zu fahren, um den Sieg über die Nazis zu feiern. „Ich denke schon, dass die litauische Regierung sich mittlerweile mit dem Holocaust und den Verbrechen der Nazis auseinandersetzt. Unser Präsident war kürzlich zur Eröffnung des Holocaustmuseums in Yad Vashem in Israel, unser Premierminister war in Auschwitz zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers“, zählt er auf, um ein wenig nachdenklicher hinzuzufügen: „Ich bin den russischen Soldaten dankbar, dass sie meine Mutter auf dem Todesmarsch vom Konzentrationslager Stutthof bei Danzig Richtung Westen befreit haben, aber warum soll ich der russischen Regierung dankbar sein?“
Sein Bruder Markas Zingeris, einer der bekanntesten Schriftsteller Litauens, dessen Werke in 14 europäische Sprachen übersetzt wurden, fügt hinzu: „Mein Großvater war vor den Nazis nach Kasachstan geflohen und konnte erst nach dem Krieg in seine Heimat zurückkehren. Trotzdem hatte er als ehemaliger Hotel- und Brauereibesitzer stets Angst vor den Sowjets.“
Emanuelis Zingeris liegt es am Herzen, dass das Schicksal der jüdischen Bevölkerung auch in Litauen aufgearbeitet wird, doch er weiß auch, dass Litauen schwer an den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu leiden hat, war doch die sowjetische Besatzung die Folge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, dem ein deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag folgte,
der Litauen der „sowjetische Interessensphäre“ zuschlug.
Obgleich für den Großteil der litauischen Bevölkerung die Sowjetbesatzung als „schlimmeres Übel“ im Gedächtnis haften mag als die deutsche, verübten auch die Nazis Verbrechen an nicht-jüdischen Litauern. „Über 5.000 ethnische Litauer wurden getötet, zwei Dörfer wurden als Racheaktionen komplett niedergebrannt“, zählt Markas Zingeris auf.
„Für mich ist und bleibt der 8. Mai 1945 ein Tag des Siegs“, sagt ein Mitglied der jüdischen Gemeinde entschlossen. Auch er möchte nicht namentlich genannt werden, das Thema sei zu umstritten in Litauen. Er selbst kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Sowjets gegen die Nazis, deren Terror für ihn als Juden niemals mit dem der Sowjets in Litauen zu vergleichen war. „Der Faschismus ist eine brutale Ideologie. Es wurden nicht nur Millionen Juden umgebracht, sondern er tyrannisierte halb Europa“, so der 82-Jährige. Er sei sich der schweren Verbrechen der Sowjets bewusst. 20.000 Litauer wurden von ihnen getötet, schätzungsweise 100.000 deportiert. „Aber während die Nazis nur Schrecken über Litauen brachten, haben die Russen hier später Straßen und Fabriken gebaut, Institute gegründet und Kunsteinrichtungen gefördert. Solche Dinge kann man von den Nazis nicht sagen.“ Er ist mit der Entscheidung des litauischen Präsidenten, nicht nach Moskau zu fahren, nicht einverstanden: „Entweder man ist für oder gegen den Faschismus. Eine andere Frage stellt sich mir nicht, wenn es um den Sieg über die Nazis geht.“
Litauens Präsident Adamkus selbst hat sich die Entscheidung nicht einfach gemacht. „Der Sieg der anti-faschistischen Koalition über den Faschismus ist für Europa und die ganze Welt von hoher Bedeutung. Alle Nationen haben unter dem Horror und den Verlusten des Zweiten Weltkrieges gelitten“, so der Präsident, der selbst im Krieg für die litauische Unabhängigkeit kämpfte. „Doch für unser Land bedeutete der Krieg nicht nur Okkupation, Deportation, Haft und Tod, sondern auch den Verlust des Landes. Wir sind für fünf Jahrzehnte von der Landkarte verschwunden und es gibt wohl keine Familie, die von Terror und Verlusten verschont wurde. Ich habe mich daher entschlossen, den 9. Mai bei meinem Volk zu bleiben.“ Der Helden und Opfer des Kriegs werde man im eigenen Land gedenken.
Die schwerwiegenden Folgen des Zweiten Weltkriegs für Litauen sind laut Emanuelis Zingeris vielen Westeuropäern nicht bewusst: „Die baltischen Staaten müssten mehr vom Holocaust verstehen, aber die westliche Welt sollte mehr über die sowjetische Besatzung verstehen.“
*** Ende ***