Malta liegt in Lettland
Osteuropa (n-ost). Andere sind die Strecke schon gelaufen. 2000 Kilometer von Berlin nach Moskau. Da kommt man sich als Beifahrerin in einem blank geputzten Mittelklassewagen fast schon spießig vor. Und überhaupt geht die Reise erst einmal nur durch Mitgliedsländer der EU. Die Grenze nach Russland schließlich habe ich schon Dutzende Male passiert, meistens an irgendeinem Flughafenschalter, einmal im Zug – also, kein Grund zur Aufregung. Das Abenteuer beginnt erst, wenn man Freunden und Kollegen in Deutschland davon erzählt. Um Gottes Willen, mit dem Auto nach Russland. Was da alles passieren kann…
Erste Grenze: Von Deutschland nach Polen. Fast schon beleidigend unspektakulär: Für die bereitwillig gezückten Ausweise interessiert sich hier niemand. Der Grenzposten winkt uns einfach durch. Willkommen im Osten!
Malbork, Polen: Wenn man am frühen Nachmittag in Berlin losfährt, kommt man pünktlich zur Nachtruhe im ehemals ostpreußischen Marienburg an. Das Städtchen an der Nogat hat seinen Namen von dem wuchtigen Backsteinbau der deutschen Ordensritter, der als Polens schönste Burganlage gilt. Um 1780 verlassen, wurde sie 100 Jahre später von dem Berliner Ingenieur Conrad Steinbrecher wieder aufgebaut, nur um im Zweiten Weltkrieg wieder der Zerstörungswut zum Opfer zu fallen. Heute erinnern lediglich das kaputte Kirchenschiff und die Ziegelflicken an den traurigen Trümmerberg. Die Zimmer im Schlosshotel gegenüber dem Burgtor sind noch genauso niedrig wie einst die Krankenkammern der Knechte. Dafür atmet das Haus Geschichte, und das Frühstück ist garantiert keine Schonkost.
Masurische Seenplatte: Im Sommer muss hier das Paradies sein. Hunderte kleiner und größerer Seen, versteckt im Schilf. Dörfchen in die Landschaft geduckt, aber auch imposante Hotelanlagen, Neubauten mit Bootsverleih und Segelkursen im Angebot. Noch sind die Wasser nicht ganz vom Eise befreit und die Störche die einzigen, die sich einquartieren. Menschenleer auch die „Wolfsschanze“, Hitlers ehemaliges Hauptquartier mitten im Wald von Gierloz. Wie feiner Samt überzieht Moos die 1944 gesprengten Betonbunker, feiner Nebel liegt auf den steinernen Buchseiten zum Gedenken an General Stauffenberg, der hier dem Grauen ein Ende zu setzen versuchte.
Erstaunlicherweise wird Polen immer bunter und sanierter, je weiter man nach Osten kommt: Fassaden in lindgrün und babyblau, renovierte Plattenbauten und westliche Supermarktketten. Blühende Landschaften sind allerdings eine Seltenheit. Es mag am Wetter liegen.
Zweite Grenze: Von Polen nach Litauen. Vorbei am Lkw-Konvoi des Malteser-Hilfsdienstes, der sich in die Lasterschlange eingereiht hat. Ausweise zeigen, Autopapiere und weiter geht’s, hinein in baltischen Nieselregen.
Kaunas, Litauen: Ein super Etappenziel für den zweiten Tag der Reise. Es soll bald weitergehen bis ins lettische Visku pagasts, nicht weit von der russischen Grenze. So der Plan. Aus dem gemütlichen Kaffeetrinken im „Grand Café“ am Anfang der berühmten Freiheitsallee werden dann allerdings anderthalb Tage. Während der Sightseeing-Tour durch die Gassen der Altstadt hat uns jemand die Beifahrerscheibe zertrümmert und das Autoradio geklaut. Am helllichten Sonntag, im strömenden Regen. Wenigstens erweist sich der Werkstatttipp von dem netten Typ an der Tankstelle als sehr nützlich – und beschert uns wegen der Wartezeit einen echten Sonnentag in Litauens zweitgrößter Stadt. Spaziergang am Ufer der Memel, Shopping im Handtascheneldorado in der Einkaufsmeile, Rumkugeln im Straßencafé. Versöhnt.
Dritte Grenze: Von Litauen nach Lettland. Mit einem Wink verlassen wir Litauen. An unzähligen Lastern vorbei holpern wir über die unbefestigte Straße Richtung Lettland. Eine schmale Brücke im Niemandsland, die Grenze markiert ein Steinblock. Man spricht erstaunlicherweise schon russisch: Dobry wetscher, sagt der Grenzbeamte in dunkelgrün und mustert erst die Ausweise, dann uns und schließlich das Auto, bevor er uns passieren lässt.
Hotel „Garden“, Lettland: Wer am Abend in der ostlettischen Stadt Daugavpils zwischen Plattenbauten und Bahnschienen auf der Suche nach einem Restaurant umherirrt – ohne fündig zu werden, der glaubt wohl eher eine Fata Morgana zu sehen, wenn plötzlich das Hotel „Garden“ hinter einer Tankstelle auftaucht. Eine moderne Glaskonstruktion mit vier Sternen, mitten im Nichts. Die Doppelzimmer sind ausgebucht, aber die Suite mit Kamin, Sauna und Frühstück inklusive, durchaus bezahlbar. Allerdings muss das Mädchen an der Rezeption erst telefonieren, um den Euro-Kurs in Erfahrung zu bringen. Ihr zweites Telefonat mit dem Koch verläuft leider erfolglos: Um 22 Uhr bleibt die Küche kalt. An der Tankstelle nebenan gibt’s Chips und Kekse.
Malta: Noch ein Beitrittsland! Kurz vor der nördlichen EU-Außengrenze kommen wir nach Malta/Lettland. Gepflegte Holzhäuschen in pink und gelb, eine verfallene Kolchose am Ortsausgang. Neugierig beobachten die Wartenden an der Bushaltestelle die fotografierenden Touristen. Ist hier wohl eher eine Seltenheit.
Vierte Grenze: Von Lettland nach Russland. Schon viele Kurven vorher kündigt sich die Grenze an. Mit dem Pkw ist man zum Glück schnell durch – auf der Überholspur am Brummistau vorbei. Die Anzahl der Laster spiegelt die Außenhandelsbilanz der Russischen Förderation: Zehn Kilometer Import, höchstens fünf Lkw warten auf der anderen Seite auf die Ausreise Richtung EU. Der Umgangston ist schon auf lettischer Seite ziemlich scharf: Papiere, Kofferraum, Gepäck – alles wird kontrolliert. Ein Anpfiff und Strafandrohung, weil wir unaufgefordert das Stoppschild vor dem Wachhäuschen passiert haben, dann lässt man uns doch durch.
Am russischen Kontrollpunkt läuft alles sehr routiniert und professionell. Es sind überwiegend Frauen, die hier abfertigen. Drei Häuschen, für jedes Dokument eines: Pass- und Visakontrolle, Haftpflichtversicherung fürs Auto kaufen und vorübergehende Zollbescheinigung ausfüllen. Der Zollbeamte amüsiert sich über die angegebenen Laptops und Handys auf der Liste – ganz schön korrekt, diese Deutschen – und streicht dann kurzentschlossen alles durch. Noch einmal Kofferraum und Hintertüren öffnen, dann sind wir durch. Nur eine Stunde für die Formalitäten an der EU-Außengrenze.
Russische Weiten: Die an der Grenze gewonnene Zeit hat man allerdings nach spätestens 50 Kilometern wieder verbummelt. Die Straße ist eine einzige Holperpiste mit metertiefen Schlaglöchern und ausgefahrenen Rändern. Jede kleine Unaufmerksamkeit könnte die Achse kosten. Warnblickleuchten mitten im Nichts: ein Unfall, zwei Laster sind beim Ausweichen ineinander geknallt. Jetzt warten alle. Ein aufmerksamer Jeep-Fahrer lotst uns durch – die Lücke reicht gerade für unser Auto. Die letzten 600 Kilometer sind eine einzige Tortur. Keine Raststätten, kein Kaffee, nur Plumpsklos zum Stehen und bizarre Birkenkompositionen im Abendrot. Da endlich: Die Lichter von Moskau, eine Erlösung.
*** Ende ***