Großtante Herlinde und die Wehrmacht im Gepäck
Polen (n-ost) – Von gut meinenden Zeitgenossen vor einer Reise nach Polen den Ratschlag zu erhalten, man solle sein Auto gut bewachen, erstaunte in den Jahren, als Polen noch der wilde Osten war, kaum. Was sollte man damals auch an Wissen über ein Land verlangen, das einem nur über die Großtante bekannt war, die gleich nach der Wende nach Schlesien fuhr und bei ihrer Rückkehr verkündete, die Polen hätten alles verkommen lassen?
Nun aber, da Polen bald ein Jahr in der EU ist, sich die Mitte Europas nach Osten verschoben hat und am Tag der Sperrmüllabfuhr immer weniger polnische Ford Transits die Runde machen, hat man für solche Witze nicht einmal mehr ein gezwungenes Lächeln übrig. Zumal die deutsche Gesundheitsreform die Zahl jener Bekannten, die zur Kur nach Polen fahren, in die Höhe hat schnellen lassen. Und da die Gesundheitssuchenden nicht Großtante Herlindes revanchistische Keimzelle haben, äußern sie sich voll des Lobes über den neuen Nachbarn in Europa. Günstig, freundlich, sauber - na, wer sagt’s denn?
Nach Poznan in Westpolen zu fahren, ist alles andere als exotisch. Zumal, wenn man den deutschen Namen Posen sagt, werden einem Stichworte wie alte Handelsstadt und Bernsteinroute zugeworfen. Selbst Großtante Herlindes Ehemann war dort. Mit der deutschen Wehrmacht und voller Wichtigkeit ist er in die Stadt eingefallen, deren Schönheiten er nicht mehr erinnert, wohl aber das Hochgefühl, das Deutsche Reich nach Osten auszuweiten.
Nach Przemysl im äußersten Osten Polens zu reisen, ruft schon eher Stirnrunzeln hervor. Zunächst, weil die Stadt nie einen der deutschen Zunge willfährigen Namen hatte, nicht einmal, als deutsche Truppen dort stationierten. Przemysl war und ist ein Zungenbrecher. Außerdem liegt es an der ukrainischen Grenze, was manchem schon wie eine Vorstufe des kriminellen Sumpfes erscheint. Anlass genug jedenfalls, um der Sorge um das Auto der um Leib und Ledertasche zuzufügen.
Zunächst also das sichere, weil dem Westen noch so nahe Ziel. Dass Posen so hübsch ist, hätte man nicht gedacht. Ja, warum eigentlich nicht? Vielleicht war es das erschlagende Industriegrau der Frankfurt-an-der-Oder-Umgebung, das eine weitere Grauschattierung erwarten ließ. Schön jedenfalls, wie schnell es heutzutage an der Grenze geht. Personenkraftwagen harmlosen Aussehens wurden nach einem knappen Blick in den Pass durchgewinkt, und voilà, da war man schon, und alles war gut. Die Wälder von gerupfter Schönheit und endlos dazu. Rechts und links der Fahrbahn atmeten graubärtige Männer und wackere Weiber auf Klappschemeln sitzend die Auspuffgase der Vorüberfahrenden ein, auch die angebotenen Pilze und Fische atmeten diese ein, nur der frische Honig nicht, der war in Ein-Liter-Gläsern verpackt. Ob die hohe Anzahl der Klappschemel-Verkaufsstände pro Quadratkilometer rentabel ist, würde der Marktwirtschaftler bezweifeln, dem Reisenden aber darf dieses Bild das Herz erfreuen. Anders die Marktstände mit überdimensionalen Gartenzwergen, Plastik-Rehkitzen und grimmigen Leoparden. Da kommt wieder Tante Herlinde ins Gedächtnis, und man wundert sich, dass dieser auch ihr eigene Ungeschmack ihr Herz nicht hat für Polen einnehmen können.
Ein Postkartentext aus Posen könnte so aussehen: Sehr, sehr schöne Innenstadt. Alte Giebelhäuser, von denen keines wie das andre aussieht, eher wie die Lebkuchenversion einer Stadt, eine ganze Reihe knabberniedlicher, zuckerputzsüßer Häuschen. Mehr Platz wäre nicht, und so könnte man nicht mehr erzählen, von der Vielzahl der Straßencafés, die nur noch durch die Anzahl von Studenten übertroffen wird, eine ganze Stadt im Jugendrausch. Das spiegelt sich auch in der Mode der Geschäfte wider. Jung und schräg. Erzählen könnte man auch nicht von der wunderbaren Vermischung verschiedener Junk-Food-Kulturen, deren eigenwilliger Gipfel ein meterlanges Brot mit Dönerfleisch, Rotkohl, Petersilie und einer gelblichen Remouladensauce ist. Am besten vom Teller und ohne Hände zu essen, wie damals beim Negerkuss-Wettessen auf dem Kindergeburtstag.
Posens Immobilienhändler offerieren im Schaufenster Schlösser zu Spottpreisen. Interessenten, sagt der Makler, seien in der Mehrzahl Deutsche und Holländer. Der Überbevölkerung und der hohen Grundstückspreise im eigenen Lande Leid, sähen sie in Polen die Chance, sich den Traum vom Großgrundbesitzer mit herrschaftlichem Wohnsitz zu erfüllen. Abgesehen davon, dass nur wenige sich Vorstellungen machten, welche Kosten die Renovierung verursache, sei es Ausländern noch nicht möglich, Grund in Polen zu erwerben. Diese Maßnahme ziele vor allem auf Deutsche, von denen bestimmte Lobbygruppen befürchten, sie könnten riesige Landflächen erwerben. Durch die Hintertür geht es natürlich, mit polnischen Zwischenhändlern. Sanfter Imperialismus sozusagen, sagt der Makler und grinst belustigt.
Die Vorurteile eilen der Wirklichkeit voraus, die Wirklichkeit ihnen belustigt davon. Die Befürchtung, je mehr Osten, desto ärmlicher die Verhältnisse, katastrophaler die Straßen, sind jedenfalls unbegründet. Im Gegenteil: Mit jedem Kilometer südöstlich des in der Schlagerwelt seit Vicky Leandros legendärem „Lodsz“, wurde die Straße breiter und leerer. Vorwitzige Ranunkeln streckten ihre Köpfe über Schneewittchen-Zäune, und weiß geputzte Hauswände machten auf Idylle. Über Land und Dörfer wölbte sich ein praller, wie aus Eimern gegossener Himmel.
Irgendwann hinter Lodsz war es auch, dass endlich ein Gefühl von Osten aufkam. Die Häuser verloren sich aus dem Blick, der Blick sich aus der Landschaft und verging in ferner Weite oder im Dunkel langgestreckter Wälder. Verbrennendes Kartoffelkraut umnebelte die Straßen.
Das Land, im westlichen Polen oft brachliegend, ist im Osten gut genutzt, jeder Meter Acker ist auch Furche. Durch die geöffneten Wagenfenster wehte der Geruch der umgewälzten Schollen. Irgendwo in der Endlosigkeit ein roter Faden, wurde Zug, wurde Brausen und verschenkte im Vorüberfahren Fernweh nach Orten, die Kiew und Archangelsk heißen.
Die Nachrichten der Deutschen Welle knatterten und rauschten sich in das Reifengeschlurre auf nassem Asphalt: nach Osten, nach Osten. Tankstellen, aufgefädelt am Straßenrand. Bauruinen, die einmal Autohändler, Restaurants oder Hotels beherbergen sollten, deren Besitzer größere Träume als Geldbeutel hatten. Wie dem Zelluloid alter Melancholie-Filme entnommen: alte Frauen mit Tüchern und Schürzen, Blumen im einen, Kartoffeln und Hacke in die Beuge des anderen Arms geklemmt.
Endlich die ersten Holzhäuser mit fragilen Balkonen, um deren Gitter sich im Spätherbst noch Fuchsien schmiegen. Bisweilen Werbeschilder für Pepsi und Coca Cola, Fujicolor erwecken den Eindruck, auch Polens Osten sei auf der kapitalistischen Überholspur, doch dann stockt der Verkehr hinter einem Fuhrwerk, einer Kutsche mit Brautleuten in Trachten.
Welche Namen die Städte trugen, die man besuchte, um müde von der Fahrt bis zum nächsten Morgen zu rasten, hat man gleich wieder vergessen. Der eigenen Müdigkeit nickten sie ebenfalls müde zu, faltengesichtig und wie seit Ewigkeiten in Novemberregen getaucht. Nur an die Kneipen, Kellergewölbe allesamt, in denen man noch still ein Bier trank und dann durch seelenentleerte Straßen zurückging, bis man an der polnischen Inlandsgrauheit und der eigenen Einsamkeit das Jammern bekam, daran erinnert man sich.
Vielleicht dauerte die Fahrt von Posznan bis nach Przemysl zwei, vielleicht auch drei Tage. Eingeklemmt zwischen schwarzrußenden Lastkraftwagen, die gleichfalls zur Ukraine strebten, in einer Landschaft verloren, die aussah, als sollte man in ihr besser nichts verloren haben, wurden die Stunden zu zäher Masse. Und hätte es nicht so viele Baustellen gegeben, die das Bewusstsein wieder weckten, hätte das polnische Inland einen vielleicht nie wieder ausgespuckt.
So aber wurde Przemysl erreicht, das Ende der östlichen Richtung. Wer ohne Grenzüberquerung hier weiter will, muss einen scharfen Knick nach Norden oder Süden machen. Herlindes Ehemann und seine Gesinnungsgenossen konnten damals noch ein paar Kilometer östlich des Sans auf polnischem Boden reisen, dirigierten vom heute zur Ukraine gehörenden Lemberg aus die Geschicke der örtlichen Bevölkerung. Die ukrainischen Frauen ließen sie zur Nachmittagsunterhaltung gerne in BDM-Manier an sich vorbeimarschieren, und fanden auch ansonsten allerlei Freude am folkloristischen. Die verbitterten Gesichter der Bevölkerung übersah man locker.
Vergangen, nicht vergessen. Nach Przemysl verirren sich bis heute wenige deutsche Touristen, sagt der Mann im Fremdenverkehrsbüro, und vielleicht sei das auch gut so. Dabei ist sie charmant, die Innenstadt am Flusse San, mit sich auf- und abschwingenden Straßen, deren Kopfsteinpflaster die finanzielle Not oder ein kluger Stadtplaner erhalten hat. Unten in der Altstadt wohnt das Bürgertum in hohen Häusern mit breiten Fassaden.
Der Krieg, dessen Spur man bis hierhin folgte, hat sich in der Stadtgeschichte niedergeschlagen. 40 Prozent der Gebäude wurden damals zerstört, und das, obwohl Przemysl noch im Ersten Weltkrieg von der größten Befestigungsanlage nach Verdun umgeben war. Die Anlage hat wenig genützt, schon 1918 verloren die Österreicher die Stadt an die Russen.
Hoch über der Altstadt residierte der Adel, lebt noch heute der Klerus. Die Burg, daneben Dom und Kloster, und in den Gässchen drum herum hallen die eigenen Schritte durch einsame Stille. Man meint die Ruhe dieser Gebäude und Wege, die Jahrhunderte und Zeitenwandel überdauerte, mit bloßer Anwesenheit zu stören.
Vielleicht könnte man in Prezmysl bleiben, schlössen die örtlichen Kneipen nicht schon um 22 Uhr ihre Tore und träfe man zum Gespräch danach noch Einheimische. Die Damen aber, die ihre Hacken auf das nächtliche Pflaster klackern lassen, sind fremd wie man selbst. Auf Transit, sagen sie, und meinen, dass Prezmysl nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg aus der Ukraine in den Westen ist, in dessen Bordellen zu enden sie sich dort, in ostpolnischen Nächten, noch als eine Verbesserung ihres Lebens vorstellen.
*** Ende ***