Estland

"Gefühl einer noch nie da gewesenen Sicherheit"

Frage: Herr Ansip, was sind Ihre vorrangigen Ziele als neuer Ministerpräsident Estlands?

Die neue Regierung wird die wesentliche Richtung in der Auslands- und Sicherheitspolitik beibehalten. Im Parlament befürworten wir die Ratifizierung der EU-Verfassung, das Schengen-Abkommen sowie alle notwendigen Vorbereitungen für die Einführung des Euro. Weiterhin wollen wir unsere demographischen Probleme in den Griff kriegen. Nationale Sicherheit, Aufbau und Investitionen für eine wissensbasierte Wirtschaft in Estland mit entsprechender Ausbildung und Investitionen sind weitere wichtige Themen. Schließlich hängt davon unsere Zukunft als Nation und Staat ab.

Frage: Estland ist jetzt seit einem Jahr Mitglied in der Europäischen Union. Was hat sich in den letzten zwölf Monaten getan?

Die lang erwartete EU-Mitgliedschaft hat meinem Land ein Gefühl des Erfolgs und der Errungenschaft, der Stabilität und einer noch nie da gewesenen Sicherheit gegeben. Sowohl für Unternehmen als auch Einzelpersonen haben sich neue Möglichkeiten eröffnet. Die estnischen Bürger haben Zugang zu neuen Arbeitsmärkten und können frei innerhalb der Europäischen Union zu reisen. Das Interesse an Investitionen in Estland sowie das Interesse ausländischer Bürger, unser Land zu besuchen, ist seit dem vergangenen Jahr erheblich angestiegen. Auf der anderen Seite erhält Estland durch seine EU-Mitgliedschaft auch mehr Verantwortung und Verpflichtungen auf internationaler Ebene.

Frage: Was möchten Sie auf europäischer Ebene erreichen?

Estlands Ziele innerhalb Europas umfassen Wettbewerb und Offenheit, eine effiziente Wirtschafts- und Haushaltspolitik und eine EU, die nah an ihren Einwohnern steht. Wir teilen die Ziele, die bei der Lissabon-Agenda gesetzt wurden, nämlich Europas Wirtschaft wettbewerbsfähiger und wissensbasierter zu gestalten. Wir wollen außerdem, dass sich Europa ausweitet und eine noch größere Rolle auf internationaler Ebene spielt.

Frage: Inwiefern hat sich der EU-Beitritt auch auf die deutsch-estnischen Beziehungen ausgewirkt?

Die politischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen sind bereits seit der Wiedererlangung unserer Unabhängigkeit 1991 sehr stark. Deutschland unterstützte Estlands Bestreben, sich sowohl innerhalb der EU als auch der NATO zu integrieren. Die aktive Kooperation mit einzelnen deutschen Bundesländern auf regionaler und wirtschaftlicher Ebene hat für uns eine hohe Bedeutung. Auch direkte Kontakte zwischen estnischen und deutschen Parteien werden immer wichtiger. Kurz gesagt: Die derzeitigen bilateralen ökonomischen und kulturellen Beziehungen beider Länder pulsieren. Diese weiter aufrecht zu erhalten und zu fördern ist eine der Prioritäten in der Auslandspolitik Estlands.

Frage: Was halten Sie von der Absage Ihres Präsidenten, zu den Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Moskau zu reisen?

Ich respektiere die Entscheidung. Der Präsident hat seine Gründe hierfür deutlich gemacht. Der Sieg über den Faschismus und das Ende des Krieges brachte den baltischen Staaten nicht die Freiheit, sondern vielmehr eine ein halbes Jahrhundert andauernde Okkupation durch die Sowjets.

Frage: Wie erklären Sie sich, dass es im unabhängigen Estland keine der elf Regierungen vor Ihnen geschafft hat, eine volle Legislaturperiode von vier Jahren an der Macht zu bleiben?

Regierungswechsel zwischen Wahlen sind ein normales Phänomen junger Demokratien, denn die Entwicklungen sind rapide und die Erwartungen der Bürger hoch. Bei allen Wechseln haben wir dennoch keine dramatischen Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik erlebt.

Frage: Was wollen Sie anders machen als die Vorgängerregierung unter Juhan Parts?

Grundsätzlich waren alle Regierungen gute Regierungen. Dies kann man schon allein an der Tatsache ablesen, dass die estnische Wirtschaft ein circa sechsprozentiges Wachstum pro Jahr verzeichnet, bei abnehmender Arbeitslosigkeit und Bürokratie. Ihre Steuererklärungen und 90 Prozent aller Banktransaktionen machen unsere Bürger heute im Internet. Allen vorhergehenden Regierungen, die dazu beigetragen haben, möchte ich danken. Wir werden diesen Weg weitergehen und ich hoffe, dass unsere Arbeit irgendwann in der Zukunft von anderen fortgesetzt wird.

Frage: Ihr Finanzminister Aivar Sõerd sowie Wirtschaftsminister und Zentrumsparteichef Edgar Savisaar sind umstritten. Sõerd, ehemals Chef der Steuerbehörde, wurde im Jahr 2003 vom früheren Finanzminister Tõnis Palts wegen Missachtung von Weisungen des Amtes erhoben, Savisaar gilt als EU-Gegner. War das für Sie kein Problem?

Alle neuen Minister Estlands sind bekannte, in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten und ich bin sicher, dass sie ihre Arbeit gut machen werden. Aivar Sõerd hat viele Jahre lang die Steuerbehörde geleitet und der frühere Ministerpräsident Edgar Savisaar führt die Partei mit den meisten Mitgliedern. Natürlich wäre es einfacher, wenn nur eine Partei die Regierung stellen würde, da dann die Ansichten der Regierungsmitglieder ähnlicher wären, aber leider sind in Estland derzeit nur Koalitionsregierungen möglich. Alle Koalitionen sind Kompromisse. Das gilt auch für die aktuelle Regierung.

Frage: Ihre Regierung will sich für eine Volksabstimmung zur Europäischen Verfassung einsetzen. Edgar Savisaar hatte im Herbst 2003 die estnische Bevölkerung aufgerufen, bei der Volksabstimmung zum Eintritt in die EU mit nein zu stimmen. Wird er an der derzeitigen Haltung Estlands etwas ändern?

Nein, die Position dieser Regierung ist dieselbe. Estland ist inzwischen ein aktives Mitglied der EU, und die öffentliche Befürwortung der EU-Mitgliedschaft ist seit unserem Beitritt im Mai 2004 erheblich gestiegen. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass die Esten mit der EU-Mitgliedschaft zufrieden sind.


ZUR PERSON

Andrus Ansip wurde am 1. Oktober 1956 in Tartu in Estland geboren. Seit April 2005 ist er Ministerpräsident Estlands. 2004 ernannte ihn der bisherige Ministerpräsident Juhan Parts zum Wirtschaftsminister. Von 1998 bis 2004 war er Bürgermeister der Stadt Tartu. Andrus Ansip studierte Chemie an der Universität von Tartu. Der Vorsitzende der Reformpartei ist verheiratet und hat drei Kinder.


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