Ukraine

Eurovision statt Visum

Nasse Schneeflocken fallen Ende April, doch in den Grünanlagen der Ukraine wird geharkt, an Denkmälern werden bröckelige Podeste zementiert und neue glänzende Plaketten angebracht. Die Ukraine bereitet sich vor auf zwei große Feste im Mai: 60 Jahre Kriegsende und Jewrowidinje, den Grandprix d’Eurovision. 

Bereits vor einem Dreivierteljahr konnten sich eingefleischte Eurovisionfans via Internet für die Zeit des Sangeswettbewerbs eine Wohnung sichern. Ganz authentisch in einer Chrustschowka, so nennt man die beengten Standardwohnungen in den Plattenbauten der Chrustschowzeit. Hinter den geschlossenen Toren der Kiewo Pecherskaja Lawra poliert man die goldenen Kuppeln und weißelt die Wände. Das zum UNESCO-Welterbe gehörende Höhlenkloster will sich den internationalen Besuchern in neuem Glanz präsentieren. Frisch geteert warten auch die Straßen der Innenstadt auf bummelnde Touristen. Auf Touristenmassen aus den Schengenländern, die ab dem 1.Mai erstmals visafrei in die Ukraine einreisen dürfen.

Bis zum ersten September können EU-Bürger nur durch Vorlage des Reisepasses ins Land reisen. So unbeschränkt dürfte eine Reise in die Ukraine letztmals zu Zeiten der Völkerwanderung gewesen sein. Anstehen in chaotischen Warteschlangen auf ukrainischen Konsulaten, vergebliche Mühen, die ukrainische Botschaft telefonisch zu erreichen, Hin- und Herfaxen der geforderten Reiseversicherung: ein ukrainisches Visum war für Ungeübte bisher nicht einfach zu bekommen. Alles bald Schnee von gestern.

Für die dreimonatige Visafreiheit gibt es zwei gute Gründe. Erstens: der Tourismus soll angekurbelt werden. Kein passender Austragungsort, zu wenig Hotelbetten – trübe Prophezeiungen zum Eurovision am 21. Mai in Kiew gab es genug. Da möchte die jetzige Regierung zum „reibungslosen und erfolgreichen Verlauf des Eurovision 2005“ beitragen, wie die Website der ukrainischen Botschaft mitteilt. Zweitens: Es gilt die neue politische Offenheit eines Landes zu zeigen, dass sich während der orangenen Revolution im vergangenen November und Dezember für eine Orientierung nach Westen entschieden hat. Die Visafreiheit ist, so erklärt die Website, „ein praktischer Schritt der ukrainischen Staatsführung in Richtung auf die Umsetzung europäischer Integrationsbestrebungen ... und soll die Öffnung der Ukraine für die Welt dokumentieren.“ Der Eurovision soll also die ukrainische „Euro-Vision“ beflügeln.

Die Öffnung ist einseitig. Ihr steht eine wachsende Abschottung der EU gegenüber. Als Außenminister Joschka Fischer sich im März in Kiew mit Präsident Wiktor Juschtschenko traf, wurde dies in der Presse erwähnt, jedoch nicht offiziell diskutiert. Von Visaskandal und Schleusertum wissen die meisten Ukrainer nichts – und wundern sich über den restriktiven Kurs der EU-Konsulate. Nie war es so schwer ein Visum zu bekommen, stöhnen die Antragsteller in der Visa-Abteilung der Deutschen Botschaft Kiew. Die Vergabe sei völlig uneinsichtig. Oleg, Konzertgitarrist aus Chernihiv, zittert da um das Visum für die nächste Konzertreise. Swetlana, Buchhalterin aus Odessa, kann es sich, wie eine wachsende Zahl Ukrainer, leisten touristisch und zum Sprachkurs nach Deutschland zu fahren. Sie zögert mit der Antragstellung, denn die Angst geht um. Die Furcht, eine Ablehnung in den Pass gestempelt zu bekommen. Einmal abgelehnt ist ein weiterer Visaantrag für alle Länder des Schengenraums schwer bis unmöglich. Nikolai, Informatikstudent aus Odessa, musste das erfahren. Wegen eines Absagestempels in seinem Pass platzte fast ein von ihm mitorganisierter Jugendaustausch mit Deutschland.

Zumindest die Vorausscheidungen zum Grandprix ist in Deutschland wie der Ukraine fast gleichermaßen skandalös. In Deutschland kauft Gracias Manager deren Platten auf, um sie in die Hitparade zu hieven. Die Ukraine spaltet sich an der Frage: Revolutionsband oder Sängerin für die ehemalige alte Garde? Die Band „Grindsholij“, bekannt durch die Hymne der Revolution „Wie werden siegen“, soll statt der Sängerin Ani Lorak das Gastgeberland vertreten. Die ist schön, hat die Vorausscheidungen gewonnen, aber während der Revolution für die falsche Seite gesungen. Auch wenn „Grindsholij“ den kämpferischen Rap entpolitisieren musste – die Diskussionen gehen weiter. Kein Wunder, dass sich viele Ukrainer derzeit etwas unverstanden fühlen, im In- wie im Ausland.


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