Lettland

„In vertrauter Runde spreche ich mit Putin auf Deutsch“

ner sparkasseFrage: Frau Vike-Freiberga, neben Lettisch sprechen Sie fließend Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, ein wenig Italienisch und Portugiesisch. Wie sieht es mit Ihrem Russisch aus?

Vike-Freiberga: Bei meinem Amtsantritt habe ich angefangen, Russisch zu lernen. Leider musste ich jedoch ziemlich bald einsehen, dass mein Terminkalender dafür zu voll ist. Ich habe einfach keine Zeit für den Unterricht. Das ist sehr ärgerlich, aber ich muss auch in meiner knappen Freizeit Prioritäten setzen. Ich möchte da lieber frische Luft schnappen als in Lehrbüchern lesen.

Frage: Wie unterhalten Sie sich mit Russlands Präsident Putin, wenn Sie ihn treffen?

Vike-Freiberga: Bei offiziellen Terminen haben wir Dolmetscher. Er spricht dann Russisch und ich Lettisch. Aber in vertrauter Runde unterhalten wir uns auf Deutsch. Seine Frau spricht übrigens auch Deutsch.

Frage: Sie haben die Einladung Putins zu den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes am 9. Mai nach Moskau als einzige der drei baltischen Staatspräsidenten angenommen. Warum?

Vike-Freiberga: Weil das ein Ereignis ist, an dem Lettland und die lettische Präsidentin teilnehmen sollten. Es war ein großer Tag, als der schreckliche Krieg zu Ende ging und somit die Ermordung von Zivilisten – in den Holocaust-Konzentrationslagern und bei der Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten – aufhörte. Nicht zu vergessen die vielen jungen Männer, die an den verschiedenen Fronten für ihre Länder kämpften und ihr Leben ließen. Auch das russische Volk und die Rote Armee der damaligen Sowjetunion haben viele Menschen in diesem Krieg verloren. Alles in allem ist der 9. Mai deshalb ein Tag, an den wir uns mit großer Erleichterung erinnern. Der Sieg, den die Sowjetunion an der Seite der Alliierten errungen hat, spricht jedoch nicht das Regime und speziell dessen Führer Stalin von der großen Zahl der Verbrechen frei, die begangen wurden. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist gewiss der, dass die Sowjets Lettland nicht befreit haben. Sie okkupierten unser Land für ein halbes Jahrhundert. Das Ende des Krieges, das für so viele Menschen Freiheit brachte, brachte für mein Land Tyrannei und Besatzung. Und deshalb ist es ganz klar, dass ich mit gemischten Gefühlen nach Moskau reisen werde.

Frage: Wie wollen Sie sich am 9. Mai bemerkbar machen? Haben Sie nicht Angst, dass Ihre Stimme bei den Feierlichkeiten untergeht?

Vike-Freiberga: Jeder, der eingeladen wurde, hat die Einladung angenommen – außer Herr Blair, bei dem zu der Zeit Wahlen stattfinden, und meine Amtskollegen aus unseren Nachbarländern Estland und Litauen. Die Feierlichkeiten finden also wie geplant statt, egal ob wir anwesend sind oder nicht und ich habe das Gefühl, dass wir – jetzt als Mitglied der EU und der NATO – in der Lage sind, mit jedem ins Gespräch zu kommen, der dort sein wird. Wir wollen deutlich den Blick für Europas Zukunft schärfen, in der sich so etwas wie der Zweite Weltkrieg mit Tyrannen wie Hitler und Stalin nie wiederholen darf. Das ist die wahre Botschaft, die wir aus dieser Veranstaltung am 9. Mai mitnehmen müssen. Meine Kritiker fordere ich auf, das Ganze auch unter dieser Symbolik zu betrachten. Da mit Ende des Zweiten Weltkrieges eine schlimme Zeit für halb Europa unter der Tyrannei des Stalin-Regimes begann, ist dies gewiss nicht nur ein Tag des Feierns.

Frage: Sie haben die Präsidenten Litauens und Estlands erwähnt. Valdas Adamkus und Arnold Rüütel haben sich definitiv entschieden, nicht nach Moskau zu fahren. Was halten Sie davon?

Vike-Freiberga: Ich stehe fast täglich in Kontakt mit den Kollegen und beim letzten persönlichen Treffen in Vilnius haben wir ausführlich über das Thema diskutiert. Wir alle sind uns der doppelten Bedeutung des Ereignisses bewusst. Von meiner Entscheidung, nach Moskau zu fahren, wussten die beiden schon länger. Jeder von uns hat eben seine eigene Taktik, mit dieser besonderen Situation umzugehen. Ich respektiere ihre Entscheidung.

Frage: Welche Rolle spielt der noch nicht ratifizierte Grenzvertrag zwischen Russland und Lettland, den Putin im Mai gern unterzeichnen würde?

Vike-Freiberga: Für mich gar keine. Wir sind seit sieben Jahren für die Unterzeichnung bereit, und es gibt keinen Grund darüber zu sprechen. Die Situation ist seit sieben Jahren unverändert.

Frage: Der französische Außenminister Barnier begrüßte Ihre Entscheidung, nach Moskau zu fahren. Haben Sie auch Reaktionen aus anderen Ländern bekommen?

Vike-Freiberga: Herr Barnier unterstrich, wie wichtig es ist, sich mit dem zu beschäftigen, was die Franzosen „travail de mémoire“ [Erinnerungsarbeit] nennen. In Lettland tun wir das. Wir haben eine Historikerkommission, wir haben uns mit dem Holocaust beschäftigt, mit Okkupation und Deportation. Ein objektiver Blick auf die Geschichte ist aber erst seit unserer Unabhängigkeit möglich. Unter einem totalitären Regime, das die offizielle Staatsmeinung als die einzig richtige darstellt, war es unmöglich, einen objektiven Blick auf die Geschichte zu bekommen.
Was weitere Reaktionen aus dem Ausland angeht: Ich habe viel Zustimmung erhalten, zuletzt von Premierminister Blair und EU-Kommissar Günther Verheugen. Das zusammenwachsende Europa, in dem wir uns heute befinden, ist auf der Basis von Versöhnung entstanden. Darauf zielt der französische Begriff ab: die positiven und negativen Aspekte der Vergangenheit zu betrachten und in die Zukunft zu sehen. Und für mich bedeutet das eben auch, am 9. Mai präsent zu sein.

Frage: Wie geht Russland Ihrer Meinung nach mit der Aufarbeitung seiner Geschichte um?

Vike-Freiberga: Ich habe den Eindruck, dass Russland noch nicht bereit ist, sich der Aufarbeitung im notwendigen Umfang zu stellen. Das wird noch viel Zeit brauchen. Als gelernte Psychologin würde ich sagen, dass die Erinnerungsarbeit eine Art psychologischer Akt ist, bei dem man sich einem bestimmten Punkt nähern muss. Das können Sie mit Menschen vergleichen, die aufgrund schmerzhafter Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit Neurosen haben. Es ist sehr mühsam, aber man muss sich damit auseinander setzen. Sonst wird man nie geheilt.

Frage: Wie stehen sie zum deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler, der erst im November in Lettland war?

Vike-Freiberga: Ich konnte Horst Köhler schon kurz in Wien am Rande der Beerdigung von Österreichs Präsident Thomas Klestil kurz kennen lernen und finde ihn als Person äußerst interessant und sympathisch. Sehr gefreut habe ich mich über sein Interesse für Lettland und die gesamte baltische Region. Sein tiefes Verständnis für die historischen Ereignisse, die Deutschland und Lettland verbinden sowie unsere politische Situation ließen seinen Besuch zu einer sehr erfreulichen Angelegenheit werden.

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ZUR PERSON

Vaira Vīķe-Freiberga wurde am 1. Dezember 1937 in Riga geboren. Sie besuchte die lettische Schule des Lübecker Flüchtlingslagers, sowie eine französische Schule in Marokko und studierte unter anderem an der kanadischen Universität Toronto Psychologie. Als Psychologie-Professorin arbeitete sie auch an der Universität Montreal, von der sie zur Ehrendoktorin ernannt wurde. Zwischen 1998 und 1999 leitete sie das Lettische Institut in Riga. Seit Juli 1999 ist sie lettische Staatspräsidentin (Wiederwahl 2003). Vaira Vīķe-Freiberga ist mit Imants Freibergs verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat.

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KURZINFO LETTLAND
Lettland gehört neben Estland und Litauen zu den baltischen Staaten, die im Mai 2004 der EU und der NATO beitraten. 1940 Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion (Hitler-Stalin-Pakt). Zwischen 1941 und 1945 von den Nationalsozialisten besetzt. In der Nachkriegszeit wurde eine Lettische SSR errichtet, die vom Westen zwar nicht anerkannt, aber hingenommen wurde. In dieser Zeit versuchte die sowjetische Zentralregierung, die lettische Bevölkerung gezielt zur Minderheit in ihrem eigenen Land zu machen, deportierte zahlreiche Letten nach Sibirien und siedelte Bürger aus anderen Regionen der UdSSR in Lettland an. Deshalb lebten 1989 nur noch 52% Letten, aber 34% Russen, 4,5% Weißrussen, 3,5% Ukrainer, 2,3% Polen, 1,3% Litauer im Lande. 1935 lebten 77% Letten, 8,8% Russen, etwa 5% Juden, etwa 4% Deutsche, 2,5% Polen, 1,4% Weißrussen und nur 0.1% Ukrainer im Lande. 1990 erklärte Lettland seine Unabhängigkeit; 1991 wurde diese von der Sowjetunion offiziell anerkannt.
In Lettland ist noch heute rund ein Drittel der 2,3 Millionen Einwohner russischer Abstammung. Neben der Amtssprache Lettisch hört man an vielen Orten Russisch. Große Empfindlichkeiten zwischen lettischen Letten und russischen Letten.



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