Rumänien

Goldmedaille statt Kindheit

Klausenburg/ Cluj-Napoca (n-ost) – „Nadia ist mein Vorbild! Wenn ich groß bin, werde ich so wie sie sein“, strahlt die kleine Carla. Acht Jahre ist sie erst alt und trainiert bereist seit vier Jahren im Sportzentrum von Klausenburg (Cluj-Napoca) für einen Platz auf dem Siegertreppchen. Barfuss, mit dickem Trainingsanzug und fingerfreien Handschuhen balanciert sie über den Schwebebalken. In Rumänien fehlt das Geld. In der Halle stehen elektrische Heizkörper, die die Trainerinnen von zu Hause mitgebracht haben. Die niedrige Temperatur im Saal macht jetzt in den kalten Monaten nur maximal drei Stunden Training am Tag möglich.

Carla ist eigentlich in einem Alter, in dem Mädchen mit Puppen spielen, Zeichentrickfilme schauen und Süßigkeiten naschen. Doch Carla hat ihr Leben in den Dienst eines typischen rumänischen Mädchentraums gestellt. Dafür setzt sie ihre Gesundheit aufs Spiel, für die Hoffnung, ein Mal im Leben Turnkönigin zu werden, wie einst Nadia Comăneci.

Olympische Spiele, Montreal, 1976. Auf der Anzeigetafel erscheint die Note 1,00. Eigentlich sollte 10,00 dort stehen. Der Computer, die Kampfrichter und Millionen von Zuschauern waren nicht vorbereitet auf eine derartige Perfektion. Die Rumänin Nadia Comăneci wird die erste Turnerin in der Geschichte des Sports, die bei Olympischen Spielen die Höchstnote erhält.

In den Jahren des Kommunismus träumte fast jedes rumänische Mädchen davon wie Nadia zu sein. Und viele tun es auch heute noch. Auf Nadia Comăneci folgten Lavinia Miloşnovici, Gina Gogean, Cătălina Ponor und viele andere. Bis heute ist das rumänische Frauen-Turnen Weltklasse. Der Preis ist hoch. Viele Kinder bezahlen dafür mit ihrer Kindheit.

15 Turnleistungszentren gibt es in ganz Rumänien. Die besten Gymnastinnen des Landes werden in ihnen zusammengezogen und jahrelang ausgebildet, bis sie vielleicht den Sprung ins Nationalteam schaffen. Kaum zu glauben: Carlas zugige Turnhalle in der rumänischen Großstadt Klausenburg/ Cluj-Napoca mit dem schönen Namen „Viitorul“ (Zukunft) ist wichtiger Teil des Ausbildungssystems. Knapp über zehn Grad Celsius zeigt das Thermometer im Sportzentrum an. Die Sportgeräte sind schon über 50 Jahre alt.
Simona Păucă, einzige Trainerin der Leistungssportlerinnen dieses Sportclubs, arbeitet mit zwei Aushilfen, ehemalige Gymnastinnen. Keine erhält Lohn vom Ministerium für Bildung und Forschung, dem das Zentrum gehört. „Wir brauchen auch einen Mann als Trainer, es ist schwer die Mädchen bei den Übungen zu heben oder aufzufangen“, beklagt sich Păucă. Fünf Leistungssportlerinnen werden in Klausenburg derzeit unter diesen Bedingungen ausgebildet. Verbissen trainieren sie auf die Nationalmannschaft hin.

Dass sie es trotz der widrigen Bedingungen schaffen können, zeigt Oana Ban, die aus Klausenburg kommt und in Athen 2004 Goldmedaillengewinnerin mit der Mannschaft wurde. Sechs Jahre lang hatte Oana Ban im „Viitorul“ Sportzentrum trainiert. Auf teils zerfetzten Matratzen und rissigem Boden – bis der Weg nach Deva in die Nationalmannschaft frei war und die eigentliche Schinderei beginnen konnte.

Deva heißt die Stadt, in der die Turn-Olympia-Mannschaft Rumäniens das ganze Jahr über trainiert. Deva heißt für die jungen Turnerinnen ihre Familie, Freunde, Schule und Spaß hinter sich zu lassen. Deva wird von der Presse „Burg“ genannt. Manche Mädchen nenne es auch „Gefängnis“. Die Turnerinnen leben dort in einem Internat mit Sportsaal und Schule. Abgesehen vom ständigen Sportunterricht sind für andere Fächer nur etwa zwei Stunden täglich vorgesehen, viel zu wenig, um später im Leben Chancen auf einen guten Job zu haben. Auch die Freizeit ist minimal.
„Ferien? Eine Woche pro Jahr, so lange dauerten meine Ferien“, sagt die heute 18-jährige Oana Ban. Es waren die einzigen Tage, in denen sie ohne Aufsicht ist, Schokolade naschen, krumm sitzen und bis spät nachts aufbleiben durfte. Das ganze Jahr über heißt es sonst: Üben bis zur Erschöpfung, die Fußspitzen geradehalten, die Knie durchstrecken und tadellose Haltung bewahren. Oana Ban hat den Druck und das harte Training nicht mehr ausgehalten und nach ihrem Olympiasieg das Leistungsturnen aufgegeben. Wenig spricht sie über die „Burg“ Deva. Die Details übergeht sie, als sei sie zu Verschwiegenheit verpflichtet.

Erst in den letzten Jahren sind Aussagen ehemaliger Leistungssportlerinnen an die Öffentlichkeit gekommen. Diese berichten von unmenschlichen Behandlungen seitens der Trainer, regelrechten Foltermethoden, permanenten Überforderungen und schweren Verletzungen. Die Turnerin Oana Petrovschi (19) soll noch mit eingegipstem Fuß trainiert haben, wobei ihr zweiter Fuß zum Ausgleich mit Sandsäckchen beschwert wurde. Dies sei eine weltweit angewandte Methode, erklärte ihr ehemaliger Trainer Octavian Belu (54). Oana Petrovschi muss demnächst wegen schwerer Wirbelsäulenprobleme operiert werden. Auch eine Reihe anderer Mädchen soll bleibende gesundheitliche Schäden durch übertrieben harte Trainingsmethoden davon getragen haben. Das Thema beschäftigte immer mal wieder die rumänischen Massenmedien. Doch regelmäßig werden die Klagen vom Olympischen Gold und unzähligen weiteren Medaillen überstrahlt.

Unter Octavian Belu, 24 Jahre lang Cheftrainer des Frauennationalteams, holte Rumänien bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften 272 Medaillen, darunter 17 olympische Titel. Doch diese Ära scheint nun zu Ende zu gehen. Belu ist zurückgetreten, nachdem ihn Oana Petrovchi verklagt hat. Dabei spielen die Vorwürfe wegen übertrieben harter Trainingsmethoden nicht einmal die Hauptrolle. Die Turnerin verlangt Gelder für ihre Teilnahme an Turnieren zurück, die Belu einbehalten hat. Der Trainer sieht sich im Recht: „Das sind ungeschriebene Regeln die weltweit bei privaten Wettkämpfen angewendet werden, für die Trainer nicht extra bezahlt werden.“

Ob die rumänische „Medaillen-Fabrik“ auch ohne ihren Trainer produzieren wird, bleibt abzuwarten. Im Ausland jedenfalls scheint man nur auf Belu zu warten. Mehrere Angebote lägen ihm bereits vor, ließ er erklären. Seine möglichen Nachfolger in Rumänien denken nun laut darüber nach, das zentralisierte Ausbildungssystem abzuschaffen und die „Burg“ Deva zu schleifen.

Das System existiert im rumänischen Frauenturnen seit Bela Karoly, der Nadia Comăneci groß herausgebracht hat und der bis heute die Frauennationalmannschaft der USA trainiert. Ein Systemwechsel käme einer neuen rumänischen Revolution gleich. Eine neue Methodik wäre wohl weit weniger effektiv, aber menschlicher. Junge Turnerinnen wie die achtjährige Carla aus Klausenburg wären vielleicht die ersten, die davon profitieren.

*** Ende ***



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