Von himmelhohen Bergen und großer Gastfreundschaft
„Bischkek Bischkek Bischkek!“ Irgendwo mitten im Gewühl des Busbahnhofs von Almaty starten die Kleinbusse. Je größer das Durcheinander, desto lauter schreien die Busfahrer. Durch die postsowjetische Moderne schlängelt sich der Kleinbus vorbei an Vehikeln wie aus einem Kusturica-Film. 30 Jahre alte Moskvitschi und 40 jährige Wolgas auf ihrem morgendlichen Weg zum „Grünen Basar“. Personenkabine, Anhänger und offener Kofferraum quillen über von Melonen oder Tomaten, ungenutzten Platz gibt es nicht. Kühlschränke und weitere Holzkisten voller Früchte passen wunderbar aufs rostende Autodach.
Dann die Berge. Links steigen sie aus der Steppe auf, die schneebedeckten Dreitausender des nördlichen Tien Schan. Die Steppensonne brennt auf die Insassen des Minibusses, der nun vor dem Panorama der „Himmlischen Berge“ (Tien Schan auf Chinesisch) am Straßenrand steht. Getriebeschaden. Kein Wunder beim Zustand der Trasse.
Der Fahrer robbt unter sein Gefährt. Nach einer Stunde und unter Mithilfe sämtlicher männlicher Passagiere geht es weiter. Alles Routine. Drei Stunden später rollt der Bus schon durch die Vororte Bischkeks. Auch hier fallen Wassermelonen ins Auge. Die 17-Kilo-Prachtexemplare liegen zu mannshohen Haufen geschichtet am Straßenrand. Einen Som – ganze 2 Cent – kostet das Kilo. Daneben Einmachgläserstapel voller Autobenzin.
Über breite Alleen geht es nun in die 1825 vom Khan von Kokand gegründete Festung „Pischpek“. Damals sollte sie die halbnomadischen kirgisischen Stämme kontrollieren, heute kontrolliert russische Sprache und Lebensart die Stadt am Fuße der bis zu 4800 Metern hohen Kirgis-Alatau-Bergkette.
Aibek ist 25, sein Mitsubishi zehn und aus Deutschland importiert. Aibek will nach Naryn, seiner Geburtsstadt. Doch vorher muss er seinen Wagen am Bischkeker Busbahnhof noch mit Passagieren füllen, leere Autos fahren in Kirgistan nur Diplomaten oder Neureiche. Kurzes Feilschen um den Fahrpreis, dann rollt ein voll besetzter Mitsubishi Richtung Naryn.
„Sibirien“ nennen es die Leute in Kirgisien. Die 45.000-Einwohner-Stadt hat eine einzige Trolleybuslinie, liegt 2100 Meter über dem Meer und nur gut 100 Kilometer Luftlinie von der chinesischen Grenze entfernt. Anderthalb Meter Schnee bringt ein üblicher Winter hier und minus 35 Grad Celsius sind auch nichts Ungewöhnliches. Doch für eine Reise durch den touristisch noch kaum erschlossenen Süden Kirgistans ist Naryn genau der richtige Startpunkt. Hier ist die Bergwelt unberührter als irgendwo sonst. Hier verbringen nach Jahrzehnten sowjetischer Kommandowirtschaft wieder unzählige Dorffamilien als Hirten den Sommer in Jurten im Hochgebirge. Und durch die Stadt schäumt der unbändige Naryn-Fluss, der in Usbekistan zum Syr-Darja und zweitmächtigsten Strom Mittelasiens wird, um dann als Rinnsal im sterbenden Aralsee zu enden.
Um unzählige Schlaglöcher herum steuert Aibek seinen Mitsubishi zum über 3000 Meter hohen Dolon-Pass hinauf. Vorbei an kriechenden Uralt-Tiefladern auf ihrem langen Weg nach China. Hier mühten sich schon die Gebrüder Polo auf ihrer Reise entlang der Seidenstrasse. Jetzt hat sowjetisches Altmetall die Seide abgelöst. In bizarren Formen transportieren es die LKW auf ihrer Ladefläche in chinesische Hochöfen. Ganze stillgelegte Kombinate verschwinden so über den bei Karawanenführern einst und LKW-Fahrern heute gefürchteten 3752 Meter hohen Torugart-Pass ins Reich der Mitte. Zurück kommen sie mit riesigen Säcken voller chinesischer Billigwaren. Aibeks Blick wird verächtlich: „Diese Transporte sind doch das Symbol für den Ausverkauf unseres Landes.“
Aibek hat in Naryn Wirtschaft studiert, danach sein erstes Geld als Händler verdient. „Rohalkohol,“ grinst er verlegen. „In Kasachstan ist er billiger. Du schmuggelst einfach möglichst viel davon über die Grenze.“ Das Geschäft wurde schließlich zu brenzlig für die Familie, denn Aibeks jüngerer Bruder begann, sein Geld als Wächter im Naryner Untersuchungsgefängnis zu verdienen.
Beide Brüder lächeln vergnügt. Wir hocken zusammen mit Aibeks Familie beim Frühstück um den niedrigen Esstisch herum. Im Hof gackern die Hühner. Es war schon dunkel, als wir am Abend Naryn erreichten. Da lud Aibek den Fremden kurzerhand zu sich nach Hause ein. Kirgisische Gastfreundschaft. Aibeks Vater schenkt dem Überraschungsgast noch einen Kalpak, die traditionelle hohe Kirgisenmütze, die Mutter einen selbst genähten Talisman. Beide aus Filz. Dann geht es mit Ruck- und Schlafsack in die Berge.
In seinem Lada bringt Akmatbek uns ins At-Baschi-Tal. Schneebedeckte Viertausender grenzen das weite Hochtal nach Süden hin ab. Kleine Dörfer mit weißgeputzten Hofhäusern stehen am sich windenden Fluss. Pferdefuhrwerke fahren Heuberge ein. Plötzlich neben der Piste zusammengefallene Lehmmauern dort, wo einst die prächtigen Mausoleen eines islamischen Friedhofs in den Himmel ragten. Ein Stück weiter steht ein intakter Friedhof. Auch hier meterhohe orientalische Fantasiebauten.
Akmatbeks Wagen ist 24 Jahre alt. Die Uhr im Cockpit steht auf einer Minute vor zwölf, Risse überziehen die Windschutzscheibe. Akmatbek flucht ununterbrochen. Über die Lebensverhältnisse, über die Benzinpreise, über den Präsidenten. Dort, wo das Tal eng wird, ziehen wir die Gurte unserer schweren Rucksäcke schließlich nochmal kräftig an. Nach großem Gruppenphoto mit kirgisischen Hirten, die hier den Sommer in einem ehemaligen Kindererholungsheim verbringen, geht es los.
Schon bald holt uns ein junger Reiter ein. Wir müssen unser Gepäck seinem Pferd überlassen. „Übernachtet doch bei uns im Geologenlager. Ich arbeite da.“ Wir sagen zu. Der Weg führt über saftig grüne Hügel, auf denen halbwilde Kühe und Pferde weiden. Dahinter hochaufragende Dreitausender, an deren Hängen schlanke Tien-Schan-Fichten wachsen.
An der nächsten Jurte die nächste Einladung. Wieder gebrochenes Brot, Kymys und auffordernd lächelnde Gastgeber. Noch eine Jurte später sagen wir ab. Ein junger Mann kommt auf uns zugeritten. Doch so schnell gibt er sich nicht geschlagen. Gäste bewirten ist Frauensache. Also setzt er kurzerhand seine eigene samt Kind mit aufs Pferd und dreht wieder um. Die Frau rollt nun die schwere bunte Gästedecke vor uns am Wegesrand aus, bricht das Brot, schenkt Kymys ein.
Irgendwann liegt auch die letzte Jurte hinter uns, jetzt interessieren sich nur noch unzählige Murmeltiere und manchmal die halbwilden Pferde für die seltenen Wanderer. Auf den Matten oberhalb der Baumgrenze weite Blumenteppiche in leuchtend gelb, weiß, blau. Einmal müssen wir unser Zelt auf dichten Stauden von Edelweiß aufstellen. Wir finden einfach keinen anderen Platz. Am Morgen schreiten wir dann durch riesig surreale Felder von einen Meter hoch stehendem wilden Schnittlauch.
Nach einem Pass knapp unter 4000 Metern verliert sich der Hirtenpfad im Geröllfeld. Wir sind im großen Naryner Naturschutzgebiet, Rückzugsgebiet für Wölfe, Bären und den seltenen Schneeleoparden. Von hier aus geht es durch das wilde Tal des dahinjagenden Naryn-Flusses zurück nach Westen, zurück nach Naryn. Dort, wo das Naturschutzgebiet endet, steht eine Rangerstation am Fluss. Ganze acht Wanderer mussten in dieser Saison hier die Eintrittsgebühr für das Schutzgebiet zahlen.
Der Bus nach Bischkek sieht aus wie ein Gefährt der frühen 60er Jahre und kommt mit nur 40 Minuten Verspätung. Jetzt wird es laut. Menschen weinen vor Abschiedsschmerz, andere vor Glück. Mit der Schiebermütze und seiner kleinen Intelligenzijabrille sieht Murat Schunusow aus wie das kirgisische Pendant des jungen Lenin. Heute am Nationalfeiertag ist er unglaublich stolz. In der Hauptstadt hat seine 10jährige Tochter den landesweiten Wettbewerb traditioneller kirgisischer Lieder gewonnen. Jetzt steht sie mit ihrer Balaleika-ähnlichen Komis vor dem gelben Bus in der Abendsonne. Im Hintergrund leuchtende Schneefelder in viereinhalbtausend Metern Höhe. Murats Hände zittern, als er sich von uns verabschiedet.