Polen

Woodstock in Zdyna

30 Prozent der polnischen Bevölkerung gehörten in der Zwischenkriegszeit nationalen Minderheiten an. Neben Deutschen gab es Ukrainer und Lemken, Weißrussen, Tschechen und Slowaken, Litauer, Russen, Armenier, Juden, aber auch Roma, Tataren und sogenannte Karaimer. Leise und fast unbemerkt sind inzwischen immer mehr der einst Vertriebenen in ihre alte Heimat zurückgekehrt und versuchen nun gemeinsam mit ihren polnischen Nachbarn ihrer fast untergegangen Kultur neues Leben einzuhauchen

Die Vatra von Zdynia

Die Straße gleicht dem Gang eines Mannes nach durchzechter Nacht. Haken und Bögen schlägt sie, im Straßengraben rostet ein Traktor. Sie fädelt verschlafene Dörfer auf und trifft auf verkrautete Friedhöfe, die von einem Stück vergessener europäischer Geschichte erzählen.

Wir sind Südpolen, unweit der slowakischen Grenze. Auf einer Wiese eine Hütte und ein paar junge Leute. Kinder tollen herum. Der Klang einer Maultrommel weht herüber. „Czesc“ ruft ein junger Mann, was so viel heißt wie „Hallo“ und „Willkommen“.

Mirek Bogonj und seine Freunde treffen sich hier oft, um Musik zu machen. Früher hätten sie Volksmusik gespielt. Heute aber nennen sie sich „Serencza“ und warten mit spezieller Folk-Music auf. Diese unterscheide sie von anderen Bands, erklärt Mirek, denn sie würden vor allem alte lemkische Lieder sammeln und neu arrangieren. Die meisten von ihnen sind junge Lemken, nur zwei haben polnische Wurzeln.

Am nächsten Tag sollte Serencza auf einer Vatra auftreten. „Vatra“, sagt Mirek „dass bedeutet eigentlich ‚Feuer‘ oder ‚Heimstatt‘. In der lemkischen Sprache bedeute Vatra aber auch ein großes Fest.“ Mit der Vatra gedenken die Lemken der Vertreibung aus ihrer Heimat und feiern zugleich die Widerauferstehung ihrer Kultur.

Polens größtes Vertriebenentreffen

Am nächsten Tag bin ich unterwegs mit dem Schriftsteller Andrzej Stasiuk, der nicht weit entfernt in einem kleinen Holzhaus am Hang wohnt. Er hat diese Gegend mit Büchern wie „Die Welt hinter Dukla“ und seinen „Galizischen Geschichten“ dem Vergessen entrissen. Sein Geländewagen rumpelt an rauchenden Holzkohlemeilern vorbei auf unbefestigten Wegen in Richtung Zdynia, dem Ort der Vatra. Mitten im Wald plötzlich eine verwilderte Streuobstwiese und Reste eines verrosteten Eisenzauns. „Das hier war einmal ein Dorf“, erklärt Andrzej. „Geblieben sind nur die verwilderten Apfelbäume. 1945 wurden die ersten ukrainischen und lemkischen Bewohner in die Sowjetunion ausgesiedelt mit dem Versprechen, dass sie dort neue Häuser bekommen würden.“

Als 1945 die Westgrenze Polens an die Oder verschoben wurde, rückte auch die Ostgrenze weiter nach Westen. Die Politik in Warschau zielte darauf ab, das vor dem Krieg zu 30 Prozent von Minderheiten bewohnte Polen ethnisch homogen zu machen. Nicht nur die Deutschen, auch die im Südosten siedelnden Minderheiten, darunter auch eine halbe Million Ukrainer und Lemken, wurden vertrieben. „Von den versprochenen Häusern aber sahen sie nichts“, erklärt Andrzej Stasiuk. „In Wirklichkeit landeten viele in den Bergwerken Sibiriens. Die, die nach der ersten Deportationswelle 1945 noch übrig waren, zerstreute man 1947 entlang der neuen Oder-Neiße-Grenze. Die Alten erinnern sich noch heute an den langen Zug von Fuhrwerken, der die Leute nach Gorlice brachten.“

Die Reste einer Schaukel. Ich entdecke sie hoch oben im Geäst eines Baumes. Unerreichbar für jedes Kind. Die Vatra von Zdynia ist nicht irgendein Fest. Es ist sozusagen das größte Vertriebenentreffen in Polen. Für die Älteren ist die Aktion Weichsel, wie die Kommunisten die Deportation nannten, noch immer ein Thema. Sie haben die neuen Häuser im Westen Polens nie als ihr Zuhause angenommen.

„Wir wurden von niemandem entschädigt“

Dann liegt Zdynia vor uns. Das erste Haus gehört Marya Dziubina, sie füttert gerade ihre Schweine. An die Deportation erinnert sie sich noch gut: „Die polnische Armee kam und hat meinen Vater mitgenommen. Sie sagten, die Leute hier würden eine ukrainische Untergrundarmee unterstützen, die gegen den neuen polnischen Staat sei. Wir hatten damals zwei Stunden, um unsere Sachen zu packen. Einquartiert wurden wir bei Poznan mit fünf anderen Familien in einem Haus ohne Fenster und Türen.“

Tatsächlich gab es in Galizien und Wolhynien gegen Kriegsende erbitterte Kämpfe zwischen polnischen Truppen und einer ukrainischen Untergrundarmee. Als die ukrainischen Kämpfer nach Kriegsende polnische Zivilisten töteten, rächte sich Warschau im Jahr 1947 mit der „Aktion Weichsel“. Die verbliebenen 140.000 Ukrainer und Lemken wurden Richtung Oder deportiert.

Doch wie Marya Dziubina haben viele Lemken längst ihre Verbannungsorte verlassen. Still und ohne viel Aufheben sind sie in die alte Heimat zurückgekehrt. „In unseren Häusern wohnten längst andere Menschen. Eine Entschädigung vom polnischen Staat haben wir nie erhalten. Die einen haben ihre Häuser von den neuen Besitzern zurück gekauft, die anderen haben sich in der Umgebung von Gorlice neue gebaut“, erzählt Marya und lächelt sanft.

Am Rand des Dorfes müht sich ein Mann in braunem Umhang mit einem Schild ab. „Lemkowska Vatra“ steht darauf. Stefan Hladyk hat vor mehr als 30 Jahren die erste, damals noch illegale Vatra organisiert. Heute ist Vize-Vorsitzender des Weltverbandes der Lemken. „Dieses Tal hier ist unser Mekka“, sagt er. Wiesen steigen zum höher gelegenen Waldrand, bunt gesprenkelt von hunderten Zelten. Rauchsäulen steigen in den Himmel – ein lemkisches Woodstock, das nach gebratenem Fleisch riecht. Oben am Waldrand hat Familie Strochanowski sich den besten Platz gesichert.

Bis zu 17.000 Menschen feiern jährlich die lemkische Vatra. (Foto: Hinrich Schultze)

Unsere Kultur ist unsere Identität

„Das hier sind meine Berge, das ist mein Leben“, sagt Großvater Strochanovski. „Ich komme hierher, damit ich die Menschen wiedersehe, mit denen ich einst groß geworden bin. Hier treffen sich Lemken aus ganz Polen, aus Europa, sogar aus Kanada und den USA. Wir sind wie eine Familie. Wir wurden damals ins Lebuser Land deportiert. Heute leben wir in Sprottawa nahe der Oder. Doch jedes Jahr kommen wir hierher. Das Schönste für mich ist, dass nicht mehr nur alte Menschen kommen. Heute kommen ganz, ganz viele Jugendliche. Deshalb hoffen wir, dass unsere Kultur weiter besteht. Sie ist unsere Identität.“

Inzwischen sind es bis zu 17.000 Menschen, die jedes Jahr nach Zdynia kommen, um ihrer alten Kultur neues Leben einzuhauchen. Es gibt Ausstellungen, Sportwettkämpfe und Auftritte von mehr als 1.000 Künstlern. Unten strebt „Serencza“ zur Bühne. Wie ein silberner Fischschwarm folgt ihnen das Blitzlichtgewitter hunderter Amateurfotografen. Mirek sehe ich, seine Freunde Jusek und Demko. Als Jusek die Flöte in den Schatten seines Goralenhutes hebt, wird es still im Rund.

Erst spät in der Nacht treffe ich sie an einem der zahlreichen Lagerfeuer wieder. „Auf der Vatra“ sagt Mirek „zeigen wir, dass wir nie vergessen, aber auch, dass wir nicht ständig trauern wollen. Die Lemken sind trotz ihrer Geschichte immer fröhlich. Und das kommt daher, weil sie immer singen. Die Musik kommt aus den Herzen und geht in die Herzen. Deswegen sind wir Lemken das glücklichste Volk der Welt.“


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