Ukraine

„Unser Platz ist in der Europäischen Union“

So viele Menschen wie am gestrigen Sonntag hatten sich selbst an den ersten Tagen der „orangefarbenen Revolution“ nicht auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz versammelt. Über 300.000 Menschen wollten die erste Ansprache von Präsident Wiktor Juschtschenko hören und warteten ungeduldig auf dessen Vereidigung im Obersten Rat, dem ukrainischen Parlament. Mit seiner Rede euphorisierte Juschtschenko die Wartenden ein weiteres Mal: Er versprach eine Wirtschaft ohne Korruption, eine unabhängige Gerichtsbarkeit und die außenpolitische Orientierung der Ukraine an Europa. „Unser Platz ist in der Europäischen Union“, erklärte Juschtschenko unmissverständlich. Den Unabhängigkeitsplatz, wo am 22. November die Demonstrationen gegen die Wahlfälschung begonnen hatten, nannte der neue Präsident „das Symbol einer Nation, die an sich selbst glaubt und ihre Zukunft aus eigenen Kräften gestaltet“.

Viele auf dem Unabhängigkeitsplatz nannten diesen Tag den schönsten ihres Lebens. So die Studentin Walentina Jurjewa: „So glücklich war ich noch nie. Ich möchte weinen vor Glück“, sagt die 21-jährige. Jetzt habe sie endlich Hoffnung, dass es aufwärts gehe mit der Ukraine: „Unser Lebensstandard wird steigen und Juschtschenko wird uns in die Europäische Union führen. Mit unseren Demonstrationen für Demokratie haben wir doch gezeigt, dass wir eine europäische Nation sind.“

Außerhalb der Feierlichkeiten allerdings glich die Innenstadt von Kiew am Wochenende einer Baustelle. Nach und nach verschwanden die Zelte des Protest-Lagers von der Haupt-Flaniermeile Chreschtschatyk. Der städtische Reinigungsdienst kratzte das Eis zusammen, das sich in den vergangenen 63 Tagen zwischen den Zelten angesammelt hatte. Bagger schaufelten Styroporplatten und Isoliermatten in die bereitgestellten Abfallcontainer. Obdachlose suchten sich zwischen den Abfallhaufen eine wärmere Schlafunterlage für den Rest des Winters.

In der Ukraine wird aufgeräumt – das war der Wahlslogan von Wiktor Juschtschenko, seit dem heutigen Sonntag neuer Präsident des Landes. Die letzten Bewohner des Zeltlagers auf dem Chreschtschatyk hoffen, dass sich das nicht nur auf Kiews Straßen bezieht. Der 18-jährige Michail, der seit der gefälschten Abstimmung am 21. November auf dem Chreschtschatyk wohnte, erwartet viel von dem neuen Präsidenten. „Wir haben für eine neue, eine gerechtere Ukraine demonstriert. Nicht so sehr für Juschtschenko“, sagt Michail. Juschtschenko solle den Alten eine anständige Rente und den Jungen eine Perspektive für die Zukunft geben.

Auch für den Posten des Ministerpräsidenten hat Michael eine klare Favoritin: Julia Timoschenko soll es werden, die energische 44-jährige, die bei den Demonstranten stets den richtigen Ton fand. Doch nur zweihundert Meter weiter, vorbei an Ständen mit Revolutions-Utensilien wie orangefarbenen Schälen und Mützen, haben sich junge Menschen mit einer ganz anderen Ansicht versammelt. Aus dem Süden und dem Osten der Ukraine sind sie gekommen, um gegen Juschtschenko zu demonstrieren. Als Drohung haben auch sie Zelte mitgebracht. Sollte Juschtschenko den Osten diskriminieren, sagt der 32-jährige Sergej aus Donezk, dann würden sie den Verkehr in Kiew mit einem Zeltlager lahm legen.

Nach seiner Ansicht hat die Mehrheit der Ukrainer nicht Juschtschenko sondern den Osturkainer Wiktor Janukowitsch gewählt. Die Kiewer hätten durch ihre „so genannte Revolution“ das Wahlergebnis auf den Kopf gestellt. Vermutlich werde dem Osten nichts anderes übrig bleiben, als sich von der Ukraine abzuspalten, meint Sergej: „Vor allem, wenn diese Julia Timoschenko Ministerpräsidentin werden sollte.“

Juschtschenko findet also weiterhin ein durch den Wahlkampf gespaltenes Land vor – das zeigen auch Fernsehbilder aus Donezk: Dort steht bereits ein Lager von 500 Protestzelten, täglich demonstrieren Bergleute und Stahlarbeiter gegen den neuen Präsidenten. Dass die Ostukrainer die Methoden der Kiewer Revolution einfach nachahmen, zeigt zwar ihre Unbeholfenheit. Aber die Unzufriedenheit dort könnte Juschtschenko das Regieren schwer machen.

Sascha Solontaj, Aktivist der „Stiftung regionaler Initiativen“ und Student an der Kiewer Kaderschmiede für Diplomaten, sieht für Juschtschenko nur einen Ausweg: Er muss das Land unter einer Idee einigen – und diese Idee heißt für ihn Annäherung an die Europäische Union. Die Demokratie und Wirtschaft in der EU wird von jungen Ukrainern im Osten und im Westen mit deutlicher Mehrheit positiv beurteilt. „Juschtschenko sollte eine echte Freundschaft mit der EU aufbauen“, sagt Sascha. Zunächst müsse das ukrainische Recht muss an das EU-Recht angepasst werden. Umgekehrt solle Brüssel die Ukraine als Marktwirtschaft anerkennen und ihren Beitritt zur Welthandelsorganisation unterstützten. Von einer EU-Mitgliedschaft zu reden, sei noch zu früh, meint Solontaj. Es komme jetzt nicht auf Versprechungen an, sondern auf konkrete gemeinsame Schritte. „Dann sehen auch die Ostukrainer, dass es ihnen besser geht – und sie werden sich beruhigen.“


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