Ukraine

Kohlenstaub statt Orangenduft

Es ist zwölf Uhr mittags, in der Kantine wird der Platz
knapp. Zwischen klapprigen Sperrholztischen drängeln sich Arbeiter in
Blaumännern und ausrangierten Militärklamotten, viele haben schwarzen Staub im Gesicht. Es gibt Buletten mit Püree. Oder Fisch mit Reis. „Buletten mit Reis gibt’s nicht“, raunzt die Köchin, „oder steht das etwa auf der Karte?“

Tut es nicht, also nehmen Michail und seine Kollegen Fisch. Mit vollen
Mündern diskutieren sie über Politik, so wie das alle tun in dieser
Bergarbeiterkantine, und mit ihnen das ganze Land. Nur klingt das hier in
Donezk ein bisschen anders als in Kiew. Hier ist Wiktor Janukowitsch, der
inzwischen beurlaubte Ministerpräsident, immer noch der Hoffnungsträger.
Groß ist dagegen die Wut auf die Gallionsfigur der Orangenen Revolution
Wiktor Juschtschenko. „Als Juschtschenko Premierminister war“, erzählt
Michail, „herrschte hier das totale Chaos. Wir haben monatelang unsere Löhne nicht bekommen, ständig fielen der Strom und die Heizungen aus.“ Bei minus fünfzehn Grad hätten er und seine Kumpels mal eine Nacht im Schacht festgesessen, weil der Aufzug ausgefallen und die Tür zur Nottreppe zugefroren war. „Und wir hatten es ja noch gut, wir hatten wenigstens Arbeit.“ Andere Bergwerke seien Juschtschenkos Reformexperimenten zum Opfer gefallen. „Als Janukowitsch Premierminister wurde, war es damit vorbei. Und deshalb will ich einen von hier als Präsidenten, einen der weiß, was die Leute hier brauchen.“

Von hier, das heißt: aus dem „Donbass“. Rund drei Viertel der landesweiten
Industrieproduktion kommen aus der ostukrainischen Region, den Großteil
stellen Stahlwerke und Kohleschächte. Über 40 Prozent der Donezker
Bevölkerung sind russisch, fast alle haben Verwandte und Freunde jenseits
der Grenze, 90 Prozent geben Russisch als ihre Muttersprache an. Und 96
Prozent haben laut offiziellem Wahlergebnis für Viktor Janukowitsch gestimmt – den Premierminister, der die Renten erhöht hat und die Arbeitslöhne, der Russisch zur zweiten Staatssprache machen will und der verspricht, dass die Grenze zu Russland durchlässig bleibt.

Gleichzeitig soll in Donezk auch am massivsten gefälscht worden sein.
Michail schnaubt verächtlich: „Mag sein. Aber niemand kann mir weismachen,
dass Juschtschenko nicht gefälscht hat.“ Er wäre also mit einem Präsidenten einverstanden, der nicht auf demokratischem Wege an die Macht gekommen ist? Wieder ein Schnauben: „Juschtschenko hat zwei Millionen Menschen auf die Straße gebracht, die halten jetzt jedem Kameramann ihre Orangen vor die Linse. Was ist daran bitte demokratisch? In der Ukraine leben 47 Millionen Menschen, die nicht auf die Straße gehen!“

Es ist ein weiter Weg von Kiew nach Donezk, und seit Juschtschenkos Anhänger die Westukraine umkrempeln, haben sich die Fronten noch einmal verhärtet. In Donezk selbst sind die Wege eher kurz. Von den stadtnächsten Fördertürmen bis zum Sitz der Gebietsverwaltung läuft man eine halbe Stunde. Hier legte Janukowitsch als Regionalgouverneur den Grundstein für seine politische Karriere. Nebenan befindet sich das Stabsquartier seiner „Partei der Regionen“, das wiederum gegenüber vom Vereinsgebäude des örtlichen Fußballclubs „Schachtjor Donezk“ liegt, gegen den Schalke 04 bald im UEFA-Cup anzutreten hat. Der Club gehört Rinat Achmetow, dem mächtigsten Donezker Oligarchen, der wiederum ein guter Freund und engster Geschäftspartner von Janukowitsch ist. Man kann den Filz förmlich sehen.

Achmetow und Janukowitsch gehören zur Kernzelle des „Donezker Clans“, jener Oligarchenclique, die im Zuge der Privatisierungen die regionale Industrie an sich raffte. Schon damals legte sich der Donbass gerne mal mit Kiew an: Bis heute wird ein Ausspruch zitiert, den der damalige Gebietsgouverneur Jefim Swjagilskij 1992 vor dem ukrainischen Parlament tat: „Den Donbass zwingt niemand in die Knie!“ Der Beweis folgte wenige Jahre später: Eine Serie von Auftragsmorden an abweichlerischen Politikern und Geschäftsleuten erschütterte die Region. Erst Janukowitsch bekam die Lage wieder in den Griff und nahm der Bevölkerung die Angst. Gleichzeitig hob er die Mindestlöhne, die Renten und die Studienstipendien an. Manche mögen das als Brotkrumen bezeichnen, ausgestreut von denen da oben, um die da unten bei Laune zu halten. Die Donezker haben es Janukowitsch bis heute nicht vergessen. „Kurz vor den Wahlen gab es sogar eine Sonderzulage“, erzählt Michail, und findet das nicht einmal merkwürdig.

Die „Orangenrevolution“ stößt im Donbass auf wenig Gegenliebe. Eine
Präsidentschaft Juschtschenkos erscheint vielen hiesigen Politikern als so
abwegig, dass vereinzelt sogar die Forderung nach einer Abspaltung der
südöstlichen Regionen laut wurde. Ein Referendum zur Stärkung der Regionen, bereits angesetzt für den 9. Januar, wurde auf Druck der Regierung zwar vorerst auf Eis gelegt, doch der Wunsch nach Autonomie ist ungebrochen. „Was in Kiew geschieht, ist eine Farce“, findet Jelena Bondarenko, eine Sprecherin der Donezker Regionalverwaltung. „Die Opposition setzt sich im Namen der Demokratie über sämtliche rechtlichen Normen hinweg.“ Dass Europa dem auch noch applaudiere, findet sie „unbegreiflich“. Und Alexandr Kasjanjuk, der stellvertretende Regionalleiter von Janukowitschs „Partei der Regionen“, glaubt: „Juschtschenko kann den dritten Wahlgang nicht ohne Fälschungen gewinnen – und wir werden das nachweisen!“ Wird also nach dem 26. Dezember alles von vorne losgehen, nur umgekehrt? „Niemand weiß, wie das
alles enden wird“, seufzt Jelena Bondarenko. „Gott gebe, dass es friedlich
endet.“


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