Ukraine

An der Grenze zwischen Ost und West

Es muss der mildeste Wintertag in der Geschichte Odessas sein. 12 Grad über Null, ein lauer Wind streicht über die Verladekräne, die schräge Nachmittagssonne bricht sich im brackigen Hafenwasser. Am Geländer der Strandpromenade winkt ein bronzener Frauenarm grazil in die Ferne, im linken Arm hält die Skulptur einen kleinen Jungen, der aufgeregt auf ein imaginäres Schiff deutet. Daneben ein Lautsprecher, aus dem rund um die Uhr ein sentimentaler ukrainischer Matrosenschlager tönt. Von der Ferne ist da die Rede, und vom blauen, blauen Meer.

Doch der Schlager der Stunde ist ein anderer, und dessen Adepten können mit Blau nicht viel anfangen: Sie bevorzugen Hip Hop und Orange. „Fälschungen? Nein! Manipulationen? Nein! Juschtschenko? Ja! Unser Präsident!“, heißt es in dem Stück, mit dem die ukrainische Band „Grin Dscholy“ die Hymne zur Orangen-Revolution geschaffen hat. Man hört es in der ganzen Stadt, aber wer es richtig laut hören will, muss zum Gebäude der Bezirksverwaltung fahren. Dort kampiert seit drei Wochen eine Gruppe von Juschtschenko-Anhängern, und aus jedem verfügbaren Lautsprecher wird ihr Zeltlager mit dem Grin-Dscholy-Hit beschallt. 

Wer rein will ins Lager, muss sich anmelden und vorher seine Zigarette ausmachen, auch getrunken wird auf dem Gelände nicht. „Wir müssen vorsichtig sein“, erklärt der Wachmann. „Die Kutschma-Leute versuchen, Provokateure einzuschleusen, um Unruhe zu stiften und uns als gewalttätige Extremisten hinzustellen.“ Dann grinst er: „Und Janukowitschs Frau hat neulich im Staatsfernsehen behauptet, die Orangen, die hier verteilt werden, seien mit Drogen vollgepumpt.“ Eine Revolution der Askese also. Trotzdem sieht das Lager aus wie Woodstock auf ukrainisch: An allen verfügbaren Ästen, Seitenspiegeln und Zeltstangen baumeln orange-farbene Bändchen, zwischen den Zelten hocken alternative Studenten im Gras und starren gebannt auf die Großleinwand vor der Rednertribüne. Am Nachmittag wird der Oberste Gerichtshof entscheiden, ob das Ergebnis der Stichwahlen wegen nachgewiesener Fälschungen annulliert und Neuwahlen angesetzt werden.

„Ganz egal was passiert – das alte Regime stirbt.“ Max fällt ein bisschen aus dem Rahmen hier im Zeltlager. Er ist 40 und Bauingenieur, und wenn die Revolutionshymne von vorne beginnt, schnipst er ein bisschen unbeholfen mit den Fingern, während rundum alles tanzt. Trotzdem hat er das gleiche Glühen in den Augen wie die anderen. „Das Kutschma-Regime war eine Fortsetzung der Sowjetunion, und damit ist es jetzt endgültig vorbei. Was heute hier passiert, ist das, wovon Gorbatschow geträumt hat. Wir führen die Perestrojka zu Ende.“

„Kiew, my s toboy!“, schallt es von der Rednerbühne: Kiew, wir sind bei Dir! Kein ganz selbstverständlicher Slogan in Odessa, einer Stadt, die immer stolz auf ihren Sonderweg war. Russen machen ein knappes Drittel der Stadtbevölkerung aus, Ukrainer etwas mehr als die Hälfte, den Rest stellt das typisch bunte Nationalitätengemisch einer Hafenstadt: Bulgaren, Juden, Rumänen, Griechen und Italiener. Aber das spielt eh keine große Rolle in Odessa, denn wer nach seiner Herkunft gefragt wird, gibt hier stets die gleiche Antwort: „Ich bin Odessit und sonst gar nichts.“ Das gilt sogar für die Sprache: Odessa spricht Russisch, aber es ist ein Russisch, wie es sonst nirgendwo gesprochen wird. Der typische Dialekt und die Wortneuschöpfungen von odessitischen Schriftstellern wie Isaak Babel, Ilja Ilf und Jewgenij Petrow waren in der ganzen Sowjetunion berühmt. 

Um so mehr musste es die Odessiter wurmen, dass die wirtschaftlich bedeutende Hafenstadt nach der ukrainischen Unabhängigkeit ein Spielball russischer Interessen blieb. Gerade erst beendet wurde der Zwist um die Odessa-Brody-Pipeline, mit der ursprünglich kaspisches Erdöl über Polen nach Westeuropa gepumpt werden sollte. Ein Machtwort aus Moskau genügte, und die Fließrichtung der Pipeline wurde umgekehrt: Jetzt wird russisches Öl von Norden aus zur Verschiffung an die Schwarzmeerküste geliefert. „Und so liefen letztlich alle Entscheidungen unter Kutschma“, meint Max. „Dieses ganze Regime war nichts als eine Moskauer Marionettenregierung.“ Doch damit ist jetzt Schluss, glaubt Max. „Klar, Russland wird mal wieder drohen, uns die Ölhähne zuzudrehen. Aber mit so was kann man heute nur noch den Weißrussen Angst einjagen, nicht den Ukrainern. Und schon gar nicht den Odessiten.“

Bis zur Oktoberrevolution war Odessa eine autonome Freihandelszone, und seit der ukrainischen Unabhängigkeit würden viele diesen Zustand gerne wieder herstellen. Am vergangenen Wochenende forderten mehrere tausend Demonstranten die Abspaltung der Region vom Zentralstaat, falls Juschtschenko Präsident werden sollte. „Verblendete Janukowitsch-Jünger“, glaubt Max. „Das sind die letzten Zuckungen eines sterbenden Systems, das seine Legitimation auf Drohungen aufbaut.“ 

Und trotzdem: Seit Premierminister Janukowitsch versucht, die von seinen Anhängern dominierten Regionen in der Südostukraine gegen Kiew und den Westen auszuspielen, ist auch Odessa in die Südost-Allianz gerutscht. Im zweiten Wahlgang hatte Janukowitsch hier rund zwei Drittel der Stimmen bekommen, Juschtschenko dagegen nur ein Viertel. Odessas Bezirksgouverneur Serhij Grinewezkij war vor einer Woche dabei, als auf einem Regionalkongress 3500 Janukowitsch-Anhänger Volksabstimmungen über eine Loslösung von der Zentralmacht ansetzten. „Als er zurück nach Odessa kam“, erzählt Max, „wollte er uns weismachen, er habe sich das Ganze ‚nur mal ansehen wollen’. So ist es immer mit diesen Leuten: Sie glauben, sie seien ihrem Volk absolut keine Rechenschaft schuldig. Sie lügen, lügen und lügen, und begreifen nicht, dass die Ära der Lügner abgelaufen ist.“

Zumindest rein geographisch haben die odessitischen Janukowitsch-Anhänger ihr Lager dichter an der Sowjetvergangenheit aufgeschlagen – nämlich nur ein paar Schritte entfernt vom oberen Ende der Potemkin-Treppe, jenem wohl berühmtesten Bauwerk Odessas, das Sergej Eisenstein mit seinem Revolutionsfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ unsterblich machte: eine Ikone des Kommunismus. Unweit steht das Bürgermeisteramt, dessen klassizistische Fassade zur Zeit ein gigantisches Banner ziert: „Für Stabilität und Ordnung – Nein zur Kastanienrevolution!“ Neben dem Eingang ist ein Militärlaster geparkt, auf dem Plakate des Premierministers prangen. Der Vorplatz ist abgesperrt, am hinteren Ende stehen blau-weiße Zelte, aus Lautsprechern säuselt saxophonlastiger Fahrstuhl-Jazz. Ein paar vereinzelte Menschen stehen auf dem Platz herum, wer zu ihnen will, muss an drei Wachleuten vorbei. Aber die lassen keinen durch, da könnte ja jeder kommen. „Was wollen Sie denn hier sehen, hier gibt’s nichts zu sehen.“ Und die Menschen auf dem Platz? „Was soll mit denen sein, haben fertig gearbeitet, unterhalten sich ein bisschen.“ Und die Zelte? „Die stehen da bloß rum, das ist so eine Mode zur Zeit.“ Wie, da wohnt keiner drin? „Nein. Ich sag’s Ihnen doch, gehen Sie weiter, hier passiert nichts. Ist doch auch besser, wenn nichts passiert.“

Wer einmal um den Platz herumläuft, kommt von hinten an das Zeltlager ran. Und tatsächlich: Da stehen 28 Zelte in sauberen Viererreihen, und alle sind leer. Sie sehen aus wie frisch aus dem Camping-Laden. Von Janukowitsch-Anhängern ist nichts zu sehen. Stell Dir vor, es ist Konterrevolution, und keiner geht hin. Dafür hat auf den obersten Stufen der Potemkin-Treppe eine dritte Fraktion ihr Lager aufgeschlagen, Polit-Camping scheint wirklich in Mode zu kommen. Sie nennen sich „Vereinigung der Odessiten“, und ihre Zelte sind blau-gelb, genau wie ihre Flaggen: die ukrainischen Nationalfarben. „Seid Ihr für...?“ „Wir sind für gar keinen!“, heißt es sofort. „Janukowitsch, Juschtschenko, ist doch alles derselbe Quatsch. Wir sind es einfach nur leid, dass sich alle hier streiten.

Odessa war immer eine pluralistische Stadt, in der alle prima miteinander auskamen. Wir sind für den Frieden und gegen jegliche Art von Spaltung.“ Die odessitische Friedensfraktion hört russischen Rock. Nach der Kundgebung wird zum Tanzen aufgefordert: „Damenwahl: Die Mädchen dürfen sich einen Milizionär aussuchen!“ Alle lachen, die Milizionäre am lautesten.
Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit sickern dann endlich die Nachrichten aus Kiew durch: Der Oberste Gerichtshof hat Juschtschenkos Klage stattgegeben und Neuwahlen für den 26. Dezember angesetzt. Keine komplett neue Wahl, bei der weder Janukowitsch noch Juschtschenko erneut hätten antreten dürfen – so wie Kutschma es zuletzt befürwortet hatte, und mit ihm der ganze Machtclan, und Moskau. Stattdessen eine Wiederholung der Stichwahl: Juschtschenko gegen Janukowitsch, die Zweite. Die Neuigkeit breitet sich rasend in der Stadt aus, bald sind die Straßen voller Autokorsos mit wehenden Flaggen. Dreimal hupen heißt Jusch-tschen-ko, viermal hupen Ja-nu-ko-witsch.

Beide Lager scheinen das Urteil zu ihren Gunsten auszulegen. „Das ist der Sieg“, schreien die Juschtschenkisten. Und die Janukowitschianer? Plötzlich sind sie doch da: Einer der Autokorsos schwenkt auf den Potemkin-Platz ein, überall tauchen Menschen mit blau-weiße Flaggen auf. „Janukowitsch hat beim ersten Mal gewonnen“, sagen sie, „und er wird auch beim zweiten Mal gewinnen.“ Obwohl die Stimmung gerade so eindeutig von den Juschtschenko-Leuten dominiert wird? „Das sind doch alles nur Zombies, die wie in Trance der Farbe Orange hinterherlaufen. Wenn man sie fragt, was sie eigentlich wollen, sagen sie: etwas Neues, und wissen selbst nicht, was sie damit meinen. Etwas Neues wie in Georgien, etwas Neues wie in Serbien?“ Juschtschenkos Leute seien in der Minderheit, auch wenn sie gerade alles täten, um aufzufallen. „Die Mehrheit der Leute weiß, dass Janukowitsch für reale Verbesserungen gesorgt hat: Er hat die Renten und die Stipendien erhöht, er macht solide Wirtschaftspolitik.“ Und die Wahlfälschungen? „Amerikanische Propaganda! Was glauben Sie denn, wo Juschtschenko das ganze Geld für die Großleinwände und die Zeltstädte her hat? Und überhaupt, wieso macht sich Euer Kanzler plötzlich für den amerikanischen Imperialismus stark? Habt Ihr den Irak-Krieg schon vergessen?“

Die Hupen sind jetzt auf Dauerfeuer gestellt, die Revolutionshymne dudelt aus jedem zweiten Autofenster, und noch immer schmachtet unten am Hafen ein Matrose nach der Ferne und dem blauen, blauen Meer. Auf der Potemkin-Treppe glaubt so mancher, dass auch die Wahlen zur Endlosschleife werden könnten, wenn in drei Wochen alles von vorne losgeht. Wie hatte Max noch auf die Frage nach möglichen Neuwahlen geantwortet? „Hier macht gerade so ein Witz die Runde: Der deutsche Bundestag beschließt, den Ausgang des Zweiten Weltkriegs zu überprüfen, weil im Nachhinein Verstöße gegen die Genfer Konventionen festgestellt wurden. Daraufhin beschließt das Europaparlament, den Krieg zu wiederholen.“


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