Leben im Schatten von Auschwitz
800 Jahre alt ist Oswiecim, eine kleine Stadt unweit von Krakau. Ein Schloss gibt es dort, eine alte Kirche und eine Synagoge. Doch das weiß kaum einer von den Millionen Touristen, die die Stadt jährlich besuchen. Sie alle kommen nach Auschwitz, so der deutsche Name, um das ehemalige Konzentrationslager zu besichtigen, das die Nazis unweit der Stadt errichtet hatten.
Als Max in Oswiecim ankam, erblickte er als erstes ein Einkaufszentrum. Gleich danach eine Tankstelle. Und vor dem Bahnhof, genau gegenüber der Haltestelle, eine Döner-Bar. Eigentlich nichts Besonderes. So was findet man in jeder Stadt. Doch damals, daran erinnert sich Max noch sehr gut, war er vollkommen überrascht. Vielleicht sogar schockiert. Denn das polnische Oswiecim ist keine gewöhnliche Kleinstadt. Es ist weltweit bekannt. Allerdings vielmehr unter dem deutschen Namen Auschwitz. Das erklärt alles.
„Ein Konzentrationslager, eine Todesfabrik, wo Tausende von Menschen gnadenlos umgebracht wurden“, sagt der 19-jährige Max Sundermann. So viel wusste er über den Ort, als er dort angekam. Genau das, was man in Schulbüchern lesen könnte. 1940 haben die Deutschen bei Oswiecim, einer 50 Kilometer von Krakau entfernten kleinen Stadt, ein Konzentrationslager errichtet. Zuerst wurden dort polnische und sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. Danach, als das Lager um einen zweiten Teil, Birkenau, erweitert worden ist, wurde es zur größten Gaskammer Europas. Juden aus ganz Europa wurden dort hingebracht und sofort vergast. Bis zur Befreiung am 27. Januar 1945 starben über eine Million Menschen in Auschwitz-Birkenau. Der Name ist schließlich zum Symbol des Holocausts und der Unmenschlichkeit geworden. Ein Ort des Schreckens.
Oswiecim, nicht Auschwitz
„Wer würde schon erwarten, dass daran noch eine 40.000-Einwohner-Stadt hängt? Eine mittelalterliche Stadt an einem malerischen Fluss“, sagt Max mit einem Lächeln im Gesicht. „Ein Ort, an dem Leute leben, und dazu noch gerne.“ Max macht gerade seine Mittagspause. Er sitzt in der Lobby des Dialogzentrums in Oswiecim. So heißt die Begegnungsstätte, in der er arbeitet. Von dort aus sind es nur ca. 500 Meter bis zum Tor mit dem bekannten Schild „Arbeit macht frei“. Aus dem Fenster kann er die alten Gebäude und Baracken gut sehen, die einst für das KZ Auschwitz gebaut wurden. Seit Oktober 2009 absolviert der junge Mann aus Steinfurt sein Freiwilliges Soziales Jahr in Oswiecim.
Oswiecim – diesen Namen benutzt er, seitdem er in Polen ist. „Hier merkt man schon den Unterschied und die Bedeutung dieser Trennung“, erklärt er. „Denn wer möchte schon sagen, dass er in Auschwitz wohnt oder – noch schlimmer – arbeitet? Das wäre so, als ob man in einem Konzentrationslager leben und arbeiten würde und als ob man etwas mit den Verbrechen zu tun hätte“, sagt Max. Eine unerwartete Entdeckung.
Eigentlich kam Max nach Oswiecim, weil er viele Fragen hatte. Warum gibt es Auschwitz, wie war es dort, wie ist es jetzt an diesem Ort? Wie ist jemand überhaupt auf so eine entsetzliche Idee gekommen, Konzentrationslager zu gründen? Aus den Büchern hat er das nicht gelernt. „Erst vor Ort spürt man diese unvorstellbare Grausamkeit. Man weiß zwar, dass die Leute hier starben. Aber erst, wenn man vor Ort ist und erfährt, dass die Leute direkt aus dem Zug in die Gaskammern gebracht wurden und dann einfach verschwunden sind, als ob es sie nie gegeben hätte, dann erst wirkt alles real und noch grausamer“, sagt Max.
Balance zwischen Stadtentwicklung und Gedenken
Der 19-jährige Freiwillige wohnt in einer älteren Siedlung, etwas abseits vom Zentrum und dem ehemaligen Konzentrationslager. Das rosafarbene Haus wurde offensichtlich seit einiger Zeit nicht renoviert. Der Putz fällt an mehreren Stellen ab. Max mag seine Wohnung, die er mit zwei polnischen Studenten und einem weiteren Freiwilligen aus Frankreich teilt, trotzdem. „Chemiker-Siedlung“ heißt der Stadtbezirk. Auch dort gibt es auf den ersten Blick nichts Besonderes. Irgendwann hat Max jedoch erfahren, dass diese Häuser ursprünglich für das deutsche Personal der IG Farben gebaut worden sind. Ausschließlich für die Vorgesetzten – die Arbeiter haben keine Unterkunft gebraucht, denn sie haben in den Baracken von Auschwitz und Birkenau gelebt.
„Das Leben hier ist schwer“, stellte Max nach drei Monaten seines Aufenthalts fest. Und das, obwohl sich die Stadt entwickelt, die Gebäude schrittweise renoviert werden und das Gebiet und der Fluss gereinigt und gepflegt werden – sogar ein Naturpark ist in der Nähe entstanden. „Es ist schwierig, in der Stadt etwas zu bewegen“, gibt Max zu. „Man hört in Oswiecim manchmal, dass hinter jedem Stein, den man umlegen will, eine internationale Organisation steht.“
Einmal wollte jemand am Friedhof in der Stadt ein Krematorium bauen. Eigentlich nichts Schockierendes. Allerdings nicht hier. Nicht in Verbindung mit Auschwitz. Eine Disco sollte in Oswiecim eröffnet werden. Die Behörde, die die Genehmigung dazu erteilte, wurde mit Protesten aus der ganzen Welt überschüttet, dass das Tanzen im Lager nicht gestattet werden darf. Sogar Werbeflächen auf den Straßen lösen bei einigen Besuchern Empörung aus. Für die Menschen, die dort nicht leben, ist eines klar: Oswiecim und Auschwitz sind dasselbe. Auf eine gewisse Weise erlauben diese Besucher den Bewohnern nicht zu leben.
„Das belastet“, sagt Max. Doch inzwischen haben sich etliche seiner Bedenken aufgelöst. „Es ist schon so, dass, wenn man nach Oswiecim kommt, man zwei Mal überlegt, ob man hier lächeln darf. Hier, wo so viele Leute gestorben sind?“ Es dauere eine Weile, erzählt er, bis man begreife, dass das Lächeln nicht respektlos gegenüber den Opfern ist. Genauso wie das Leben.
Abends geht Max in die Stadt. So, wie er es auch in Steinfurt macht. Mit polnischen Bekannten und anderen Freiwilligen. Ihre Lieblingskneipe ist genau am Marktplatz. Schöne Musik, gemütliche Sofas. Und neuerdings auch ein schöner Blick auf die historischen Häuser rund um den Platz. Etwas weiter unten am Fluss Sola steht ein altes Schloss, in dem sich seit kurzem das erste Stadtmuseum befindet. Gleich daneben stehen das Jüdische Zentrum und eine Synagoge. Eine Synagoge ohne Juden. Der letzte Jude ist im Jahr 2000 in Oswiecim gestorben. Vor dem Krieg waren 60 Prozent der Oswiecimer jüdischer Abstammung.
Max kennt sich mit der Stadtgeschichte gut aus. Besser als viele Bewohner selbst. Das gehört zu seinen Aufgaben. Er betreut die Besucher in Oswiecim, organisiert Treffen mit Zeitzeugen und Jugendlichen vor Ort. Er bietet auch Stadtführungen an. Meist erfolglos. „Die Leute wollen nur nach Auschwitz, dann essen, mit Zeitzeugen reden und sofort zurück. Also sehen sie meist nur Auschwitz und nicht Oswiecim selbst.“
Sogar seine deutschen Freunde aus Steinfurt haben nicht besonders positiv auf sein Angebot reagiert sich die Stadt anzuschauen. Das Museum ja, aber wozu Oswiecim? „Schade“, findet Max. „Denn so sehen sie nicht, wie schön die Stadt ist und wie nett die Leute hier sind. Am Anfang fürchtete ich mich davor, dass die Leute negativ reagieren, wenn ich auf der Straße Deutsch spreche. So ist es aber überhaupt nicht!“
Oswiecim freut sich über junge Menschen wie Max. Die Stadt organisiert Seminare und Schulungen. Sie hofft, dass sie auf diese Weise Werbung für Oswiecim im Ausland macht. Es geht darum, das wahre Gesicht dieser Stadt zu zeigen. Auf der Internetseite der Stadt gibt es Infos in mehreren Sprachen. Darunter auch auf Deutsch. „Die Friedensstadt“ – lautet der Slogan.
Max Sundermann ist skeptisch. „Schon merkwürdig – seit 800 Jahren gibt es Oswiecim. Nur 5 Jahre davon gab es das Lager. Aber der Schmerz liegt noch tief. Zu stark hat Auschwitz die Stadt geprägt“, glaubt er. Eine neue Gruppe hat gerade ein Programm bei Max gebucht. Im Januar gibt es in Oswiecim immer viele Touristen. Alle wollen zum Jahrestag der Befreiung. Nach Auschwitz.