Hart bleiben am Wochenende
„Alles gelingt uns in letzter Zeit. Wir haben den Grandprix d’Eurovision gewonnen und auch im Fußball stehen wir in der Champions-League und für die Weltmeisterschaft gut da. Jetzt müssen wir nur noch diese Kleinigkeit mit dem Präsidenten hinkriegen, aber das klappt auch!“ scherzt Jurji, Vertriebsmanager aus Odessa. Jeden Abend steht er vor der Bühne auf dem zentralen Maidan Nesaleschnosti, mit ihm hunderttausende Demonstranten. Die größte Gefahr in Kiew scheint in diesen Tagen nicht die angeblich angeforderte „brüderliche Hilfe“ aus Moskau zu sein. Sich auf dem spiegelglatten und menschenüberlaufenen Prachtboulevard Kreschatyk die Beine zu brechen, dies ist wahrscheinlicher.
„Die georgische Revolution hat drei Wochen gedauert, aber dort war es nicht so kalt.“ Artiom, Übersetzer in Kiew, reibt die Hände gegeneinander. Nur wenige Länder gratulierten dem Regierungskandidaten Viktor Janukowitsch zu seinem angeblichen Sieg der Präsidentenwahl: Russland, Weißrussland und Usbekistan. Dagegen ist aus dem Rest der Welt, vor allem aus der EU und den USA, Rückenwind für die Demonstranten zu verspüren. Eigens aus Polen kam Revolutionsheld Lech Walesa nach Kiew gereist und sprach auf der Bühne im Zentrum zu den Demonstranten.
Nachdem die lange vernachlässigte Ukraine nun weltweite Aufmerksamkeit genießt, wollen Opposition und Demonstranten auch in den nächsten Tagen hart bleiben in politischen Forderungen und gegen die Temperaturen auf der Straße. Alles wartet gespannt auf den heutigen Montag. Dann will der Oberste Gerichtshof die Vorwürfe der Opposition zur Wahlfälschung prüfen.
Abgesehen von den Verhandlungen auf hoher Ebene, wie sieht Revolution praktisch aus?
Hunderttausende Menschen belasten die Infrastruktur der Innenstadt. Menschen kommen aus allen Teilen des Landes. Sie wollen demonstrieren, aber sie müssen auch essen, schlafen, sich wärmen und unterhalten werden.
Das Ukrainischen Haus am östlichen Ende des Kreschatyk ist das eigentliche Kraftzentrum der Revolution. Die Luft ist nicht mehr frisch im kreisförmigen Foyer, in dem Leute zwischen Bergen von Kleiderspenden, Decken oder Stapeln von Filzstiefeln erschöpft auf Stühlen sitzen. Mit ukrainischen Volksweisen stärkt ein älteres Männerensemble die Stimmung. Der provisorisch eingerichtete „Stab“ verteilt Adressen. Willige Kiewer beherbergen die Angereisten. Protestieren und Unterstützen, dies halten in diesen Tagen viele Ukrainer für ihre patriotische Pflicht. „Wenn ich jetzt nichts tue, darf ich mich nie mehr darüber beschweren, dass sich in der Ukraine nichts ändert.“, so wie Programmierer Nikolai denken viele.
Vor der Kantine im ersten Stock stehen die Demonstranten geduldig Schlange. Menschen lagern hinter Topfpflanzen und provisorisch aufgestellten Trennwänden auf Isomatten und Kleiderbündeln. Am „Medpunkt“ gibt es ärztliche Hilfe. Umlagert wie Essensausgabe, sanitäre Anlagen und Kleiderverteilung ist der „Aufladepunkt“: Handys geben vielleicht auf, doch ihre Besitzer nicht! Dann heißt es: Aufladen im Ukrainischen Haus, denn ohne Handy keine Revolution!
Ist die Batterie voll, geht es wieder zur Bühne auf den 200 Meter entfernten Maidan Nesaleschnosti. Der Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko tritt täglich dort auf, während sein Gegner Janukowitsch sich äußerst bedeckt hält. Oppositionsvertreterin Julia Timoschenko ruft zur Blockade von Regierungsgebäuden auf, ausländische Politiker verkünden ihre Sympathie und Unterstützung. Bedeutende ukrainische Stars wie die Sängerin Ruslana oder Boxer Witali Klitschko geben sich das Mikrofon in die Hand. Nicht für den Oppositionskandidaten seien die vielen Leute ins Zentrum von Kiew gekommen, so kursiert ein Witz der Janukowitsch-Fraktion, sie seien alle nur zum Konzert gegangen!
Wenn es beim Blockieren, Demonstrieren, Skandieren wieder zu kalt wird oder die Batterie aufgibt, dann schnell zurück ins Ukrainische Haus. Es gilt aktionsfähig zu bleiben und nicht krank zu werden, denn - alle wollen bleiben „bis zum Sieg“!