Mit den Schneeflocken tanzen
Am Abend tanzen nicht nur die Schneeflocken auf dem Kreschatyk, dem großen Boulevard im Zentrum Kiews. Männer in orangenen Regencapes und fröhlichen Gesichtern umfassen die Taillen von Frauen mit blau-gelben Halstüchern und drehen sich zu den Takten des Live-Konzerts von der großen Bühne auf dem Platz der Unabhängigkeit, Maidan Nesaleschnosti. Am zweiten Tag nach der Stichwahl um das Präsidentenamt sind die protestierenden Anhänger der Opposition in einer euphorischen Stimmung. Noch ist allerdings nicht klar, was ihre Anwesenheit bewirken kann. Sicher ist nur, die Demonstrationen werden weitergehen.
Am Morgen sollte eigentlich das ukrainische Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten, um über ein Misstrauensvotum gegen die Zentrale Wahlkommission zu entscheiden. Der Kandidat der Opposition, Viktor Juschtschenko, hat dieser massiven Wahlbetrug vorgeworfen und eine Überprüfung der Wahlergebnisse gefordert. Das Parlament berief die Sitzung ein, konnte aber keine Entscheidung treffen, da sich keine Mehrheiten fanden und nicht genug Abgeordnete anwesend waren.
Derweil strömen zwei Millionen Menschen durch die Straßen Kiews. Sie sammelen sich um die zeltenden Demonstranten auf dem Kreschatyk, sie ziehen vor das Parlament und füllen den angrenzenden Marijnski Park. Orangefarbene Fähnchen, Bänder, Schals, sogar Bauhelme und Skianzüge - wohin man auch blickt sieht man die Farbe der Oppositionspartei „Unsere Ukraine“. In welche Richtung man hört, überall wird ein Name wieder und wieder skandiert: Juschtschenko.
Weil das Parlament nichts entschied, die Wahlkommission schwieg, wie auch der amtierende Präsident Kutschma, entschied sich Oppositionskandidat Juschtschenko zu einem Zug mit Symbolcharakter: Am Nachmittag schwor er auf der großen Bühne seine präsidialen Absichten gegenüber dem Vaterland auf die Bibel. Nach Kiew, Lwiw und Iwano Frankiwsk erklärten nun weitere Städte ihn zu ihrem Präsidenten.
Nicht wenige Anhänger Juschtschenkos betrachten allerdings diesen Zug mit Skepsis. Sich selbst zum Präsidenten zu erklären, das entspricht nicht der Konstitution. Juschtschenko, der seinen Wahlkampf gesetzesgemäß geführt habe, leiste sich damit einen Fehler, geben Skeptiker zu bedenken. Er gebe der Regierung Grund, die Armee auf den Plan zu rufen.
Die Angst grassiert, dass die Massen in der Hauptstadt zum unkalkulierbaren Risiko werden könnten. "Die Opposition wählt mit diesem Weg eine sehr aggressive und nicht beherrschbare Methode, um an die Macht zu kommen", meint Wowa, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter in Kiew.
„Es ist doch kein Spiel mehr! Es ist etwas Ernsthaftes!“ sagt dagegen Nikolai, Programmierer aus Odessa, der zynisch prophezeit hatte, seine Landsleute würden bei der Kälte schnell aufgeben. Jurji, ebenfalls aus Odessa, meint: „Am wichtigsten ist nicht der Kandidat, sondern dass die Leute etwas bewirkt haben. Es sind ihre Wahlen. Sie wollen nicht von oben bestimmt werden!“
Dass hier eine Revolution begonnen hat, daran zweifelt wohl keiner der Demonstranten. Und eine Revolution zu machen ist nicht leicht, besonders wenn es kalt ist: stehen, warten, Schilder halten, weiter stehend warten. Dabei kocht die Gerüchteküche: Kutschma ist in Moskau, auf der Einfallsstrasse von Shitomir sind Sandberge aufgeschüttet, in Charkiw legten sich Regierungsanhänger vor die Busse mit Demonstranten, um sie an der Abfahrt zu hindern. Das Kiewer Stadtzentrum platzt derweil aus alles Nähten: öffentliche Toiletten sind überfüllt, Putzkolonnen wegen der Abfallberge im Dauereinsatz. Die Metrostationen pumpen Menschenströme in alle Richtungen.
Besonnen gingen die meisten Protestler gestern Abend um 23 Uhr nach Hause. Vielleicht werden sie einen weiteren Tag Urlaub nehmen, um nun weiter zu demonstrieren. Das lässt sich schnell organisieren – längst ist das wichtigste revolutionäre Utensil das Handy.