Ukraine

Eine Chance für die Demokratie

Orange ist nicht nur die Farbe des ukrainischen Oppositionskandidaten – Orange ist in diesem Herbst eine echte Modefarbe in der Hauptstadt Kiew. In jeder U-Bahn, in jedem Trolleybus sitzt mindestens eine Studentin mit einem Anorak in Orange oder einem Schirm oder einer Haarspange. Selbst manche Rentnerin hat sich eine der Banderolen um den Arm gebunden, die an den Wahlkampfzelten von Wiktor Juschtschenko verteilt werden. Was auf den ersten Blick wie ein harmloses politisches Statement aussieht, trägt in Wahrheit eine viel wichtigere Botschaft. Die Studentin, die Rentnerin zeigen: Wir fürchten uns nicht. Denn wer in der Ukraine für den Oppositionskandidaten Partei ergreift, der kann leicht von der Universität verwiesen oder von seinem Arbeitgeber entlassen werden.

Die ukrainische Präsidentschaftswahl, die am kommenden Sonntag (21.11.) in die Stichwahl geht, gilt als die wichtigste Abstimmung seit der Unabhängigkeitserklärung des Landes vor 13 Jahren. In dem Nachbarstaat der Europäischen Union könnte zum ersten Mal ein Mann Präsident werden, der nicht der kommunistischen Machtelite entstammt und für eine echte Demokratisierung des Landes wirbt. Der 50-jährige Wiktor Juschtschenko verspricht, die Macht der Oligarchenklans zu brechen und die Ukraine auf den Weg einer Marktwirtschaft zu führen. Das nötige Wissen dafür hat Juschtschenko: Lange Jahre war er Leiter der ukrainischen Nationalbank. In seine Amtszeit fällt der erfolgreiche Kampf gegen die Inflation und die Einführung der ukrainischen Währung „Griwnja“. Seit den Parlamentswahlen vor zwei Jahren führt Juschtschenko die größte Oppositionsfraktion „Nascha Ukraina“ (Unsere Ukraine) an.

Die Oligarchenklans sind das größte Problem der Ukraine. Die durch alte kommunistische Seilschaften und Familienbeziehungen verbundenen Superreichen beherrschen schätzungsweise zwei Drittel der ukrainischen Wirtschaft. Jüngstes Beispiel ist die Privatisierung des größten ukrainischen Stahlwerkes „Kriworoschstal“. Obwohl ausländische Firmen 500 Millionen Dollar mehr zahlen wollten, ging die Fabrik an den reichsten Ukrainer Rinat Achmetow und den Schwiegersohn des amtierenden Präsidenten, Wiktor Pintschuk. Die Kontrolle über alle Verwaltungsebenen, insbesondere die Finanzämter, sichert die Unternehmen der Oligarchen vor unliebsamer Konkurrenz. Gleichzeitig lebt der Großteil der Ukrainer in Armut. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 60 Euro, viele Rentner müssen mit der Hälfte auskommen.

Der Widersacher von Wiktor Juschtschenko wird in der Ukraine einfach als „Kandidat der Macht“ gekennzeichnet. Es handelt sich um Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, ein Mann mit zweifelhafter Vergangenheit. In seiner Jugend war der heute 54-Jährige Mitglied einer Straßengang, die Raubüberfälle und Vergewaltigungen beging. Dennoch hat er die Unterstützung des amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma und der drei bestimmenden Oligarchenklans. Sie wissen: Janukowitsch wird ihren Besitz nicht antasten. Außerdem kommt der fast zwei Meter große ehemalige Automechaniker aus dem Industriegebiet Donezk und kann auf die Stimmen der meisten Bergarbeiter zählen. Im Donezk-Becken allein leben zehn Prozent der 47,5 Millionen Ukrainer.

Der Ausgang der Wahl ist nicht nur für die Ukrainer wichtig – sondern auch für den großen Nachbarn Russland. Wladimir Putin ergriff in den vergangenen Wochen unmissverständlich Partei für den Regierungskandidaten. Vor dem ersten Wahlgang strahlten die drei landesweiten ukrainischen Fernsehkanäle gleichzeitig eine Stunde lang ein Interview mit Wladimir Putin aus. Putin erklärte, Wiktor Janukowitsch habe als Ministerpräsident „viel Gutes getan“, vor allem das „nachhaltige Wirtschaftswachstum“ sei seiner Politik zuzuschreiben. Warum Moskau so eindeutig Partei ergreift, dafür nennt der Politologe Wladimir Fesenko vor allem zwei Gründe: Janukowitsch kann nur mit russischer Hilfe gewinnen und wird sich Moskau dankbar zeigen müssen. Außerdem sei Janukowitsch durch Russland erpressbar, so Fesenko. In den Moskauer KGB-Archiven liegen höchstwahrscheinlich kompromittierende Dokumente über die dunkle Vergangenheit des Ministerpräsidenten.

Seit Monaten machen die landesweiten Fernsehsender Front gegen den Oppositionellen Juschtschenko. Ausgesuchte Politologen dürfen den Oppositionellen wahlweise als „Nationalisten“ oder als „Handlanger Amerikas“ beschimpfen. Dennoch bekam Juschtschenko im ersten Wahlgang mit 39,78 Prozent die Mehrheit der Stimmen. Vor allem im ukrainisch-sprachigen Westen und in der liberalen Mitte des Landes dominierte er eindeutig. Und im ganzen Land fand er die Unterstützung der jungen Wähler. Der Ministerpräsident Janukowitsch erhielt 39,32 Prozent – hauptsächlich aufgrund des russisch-sprachigen Ostens und der Krim.

In der Stichwahl dürfte Juschtschenko einen Vorsprung von etwa fünf Prozent haben, da sich der Kandidat der Sozialisten für ihn aussprach. Die große Frage ist nun, wie viele Stimmen die Regierung durch Manipulationen auf ihre Seite bringen kann. Bereits im ersten Wahlgang überfielen Unbekannte Wahllokale, in denen Juschtschenko die Mehrheit der Stimmen hatte. Und etwa acht Prozent der Wahlberechtigten konnten gar nicht abstimmen, weil sie ihre Namen falsch geschrieben oder gar nicht in den Wahllisten fanden. Welche Schachzüge sich die Regierung diesmal ausdenkt, wird sich am Sonntag zeigen. Aber vor allem der Westen des Landes und die Hauptstadt Kiew wird einen Wahlbetrug nicht einfach hinnehmen. Millionen Ukrainer sind mindestens zu langanhaltenden Demonstrationen bereit.


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