Ukraine

Die orangene Revolution

„Jungs, hier nehmt den Tee. Sollen wir euch noch Brötchen bringen?“. Nicht weit von Kiews zentralem Platz der Unabhängigkeit standen besorgte Eltern mit Thermosflaschen und Essenspaketen. Vor einigen Tagen war der erste Schnee gefallen, vor einigen Stunden das Ergebnis der Präsidentenwahl bekannt gegeben worden. Der von der Regierung favorisierte Viktor Janukowitsch hatte in einer Stichwahl mit drei Prozent mehr Stimmen über den Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko gesiegt. Am gestrigen Abend standen die Eltern daraufhin rund um ein abgesperrtes Stück der Kiewer Hauptstraße Kreschatyk. Ihre Kinder haben dort ein Zeltlager aufgebaut, aus Protest. Sie wollen bleiben, bis die Verhowna Rada die Zählung der Zentralen Wahlkommission überprüfen lässt und revidiert. Nach einem Wahlkampf mit vielen Ungereimtheiten stimmen diese nicht mit der Auszählung der Opposition überein. Zudem gibt es allerlei Ungereimtheiten, die Opposition nennt es klar Wahlbetrug: einen plötzlichen Geburtenanstieg in manchen Wahlgebieten, eine unerklärliche Emigration von einer Region in die andere oder auch Verstorbene, von denen Stimmzettel auftauchten.

Es sind nicht wenige Protestierende. Am Abend nach dem Wahlsonntag pumpten die Metroausgänge Menschen auf den zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt, Tausende strömen spontan in Richtung Zentrum. An die hunderttausend Menschen drängen sich auf dem Platz der Unabhängigkeit. Orangene Fahnen wehen, orangefarbene Bänder flattern an Handtaschen und Rucksäcken, orangene Schals schauen aus Mantelkrägen hervor. Kiew ist orange in diesen Tagen. Es ist die Farbe der Opposition, die Farbe der Partei „Unsere Ukraine“ und ihres Kandidaten Viktor Juschtschenko, der die jungen Leute, die Studenten für seine Kampagne gewonnen hat. „Er setzte im Wahlkampf auf das richtige Thema: die Unabhängigkeit und die Besonderheit der Ukraine.“ sagt Julia, Studentin an der Polytechnischen Universität Kiew, „Damit hat er unseren Nerv getroffen. Wir wollen nicht nur ein Anhängsel von Russland sein!“. Viele denken wie Lena von der Linguistischen Universität: „Wir sind nicht für den einen, aber gegen den anderen!“. Jetzt wollen sie nicht aufgeben. Sie skandierten den Namen ihres Favoriten, der in Kiew 53 Prozent der Stimmen gewann.

Auf der zentralen Bühne gab Okean Elzi, ein berühmter ukrainischer Rocksänger, den Takt an. Studentenführer und Politiker sprechen bereits von einer friedlichen Revolution. Aus Georgien, wo mit Saakaschwili ein junger Präsident friedlich die Macht übernommen hat, waren Sympathisanten angereist, ebenso aus Weißrussland. Innerhalb von zehn Tagen muss das offizielle Wahlergebnis endgültig erklärt werden. Bisher fehlt es nicht an Unterstützung für das Zeltlager auf dem Kiewer Boulevard: „Nein, Omachen, wir haben genug zu essen. Wir wissen gar nicht, wo wir das unterbringen sollen. Geben Sie es doch den Passanten.“ Wenn schon nicht ihre Brötchen, so spendet die ältere Dame einige Grivnja für die Zeltenden in die Box mit der Ikone darauf, denn die Renten wurden vor kurzem von der Regierung erhöht. Auch wenn Müdigkeit am heutigen Morgen einige Gesichter zeichnete, die Protestierenden winkten weiter mit orangefarbenen Fähnchen. Noch hoffen sie auf einen Präsidenten, der Richtung Europa aufbrechen wird, auf Veränderung und eine gerechte Auszählung der Stimmen – auf die orangene Revolution.


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