Angst vor einem zweiten Weißrussland
Das leuchtende Orange des Pullovers von Juri Andruchowytsch strahlt freundlich vom Podium in den Raum hinunter. Dort unten wiederholt es sich nicht zufällig in den verschiedensten Kleidungsstücken der Besucher. Orange ist die Farbe der Stunde in der Ukraine. Die Farbe des Oppositionsblocks „Unsere Ukraine“, der seit Monaten auf den Straßen und Städten in der Ukraine für den Sieg des Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko kämpft. Den ersten Wahlgang hat Juschtschenko mit hauchdünnem Vorsprung bereits für sich entschieden. Am 21. November steht die Stichwahl an.
Es ist eine Wahl, die nach Meinung von Andruchowytsch, dem international profiliertesten Autoren der Ukraine, für eine Zäsur in der politischen Geschichte der Ukraine sorgen könnte. „Das erste Mal haben wir eine echte politische Alternative und nicht die Wahl zwischen zwei unterschiedlich großen Übeln“, erläutert der Schriftsteller seinem Hamburger Publikum. Eigentlich steht eine Lesung und eine Diskussion über Literatur auf dem Programm. Schließlich ist der vom Suhrkamp-Verlag für das deutsche Publikum entdeckte Andruchowytsch einer der literarischen Aufsteiger des Jahres. Gemeinsam mit dem polnischen Starautoren Andrzej Stasiuk sorgte er jüngst mit dem Essay „Mein Europa“ für Furore. Doch es ist eine Lesung der etwas anderen Art. Am Ende herrscht im Saal Wahlkampfatmosphäre.
„Juschtschenko steht für einen modernen, transparenten Staat, der sich nicht vor seinen Bürgern versteckt, sondern sie an seinen Entscheidungen teilhaben lässt“, wirbt Andruchowytsch für seinen Kandidaten. Dagegen sei Viktor Janukowitsch, amtierender Ministerpräsident und Günstling des scheidenden Staatsoberhauptes Viktor Leonid Kutschma, „eine Marionette Moskaus“.
Ähnlich wie weiland Günter Grass, der seit den späten 60ern für Willy Brandts SPD blechtrommelte, ist Andruchowytsch ein Schriftsteller, der den Sprung vom Schreibtisch in die große Politik wagt. Doch anders als der deutsche Nobelpreisträger hat Andruchowytsch, der in der westukrainischen Stadt Ivano-Frankivsk lebt, dabei nicht nur verbalen Gegenwind zu befürchten: Sein Kandidat Juschtschenko ist bis heute von einem mutmaßlichen Giftanschlag schwer gezeichnet. Vermutlicher Urheber: Der ukrainische Geheimdienst.
Anstatt einzuschüchtern, hat nicht zuletzt dieses Ereignis die intellektuelle Elite der Ukraine und große Teile der Studentenschaft auf die Barrikaden gebracht. Nach Meinung von Andruchowytsch und seiner Schriftstellerkollegin Oksana Subuschko ist die anstehende Wahl eine „moralische Entscheidung zwischen Banditen und einer normalen, bürgerlichen Gesellschaft“.
Das Wort der Intellektuellen scheint in der Ukraine zunehmend Gehör zu finden. Mehrfach demonstrierten in Kiew Studenten aus dem ganzen Land, obwohl die Regierung Druck auf die staatlichen Bahnen ausgeübt und die Beförderung von potentiellen Demonstranten zu verhindern suchte. Ähnlich wie in den bundesrepublikanischen 60ern sind Wahlinitiativen entstanden, die die Bevölkerung über ihre Wahlrechte aufklären und gleichzeitig den Machthabern bei ihren Aktionen auf die Finger schauen wollen. Deshalb wurden sie schon früh vom Regime als gefährlich eingestuft und Repressalien ausgesetzt. Geschäfträume oder Wohnungen ihrer Mitglieder wurden willkürlich durchsucht und mit untergeschobenen Drogen oder Sprengstoff als Terroristen vor Gericht gezerrt. Die Einschüchterungsversuche brachten jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Stattdessen formierte sich der Widerstand.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Internetseite www.maidan.org.ua, die die aktuellsten Nachrichten unabhängig von den staatlich gelenkten Massenmedien verbreitet. Diese Transparenz verhindert das Gefühl der Isolation und Hilflosigkeit innerhalb der Aktivisten und macht sie automatisch stärker.
Wenn Juri Andruchowytsch über einen Sieg der, wie er es nennt, „Macht“ redet, verdunkeln sich seine Gesichtszüge: „Sollte Janukowitsch Präsident werden, befürchte ich, dass aus der Ukraine ein Belarus II wird. Eine Diktatur, in der die Menschen nichts zu sagen haben und dem Staat hilflos ausgeliefert sind“.
Ansätze zu dieser Diktatur seien nach Ansicht des Schriftstellers im laufenden Wahlkampf zu spüren. „Bei uns in Ivano-Frankivsk haben wir im ersten Wahlgang fast 90 % der Stimmen erhalten und alles blieb ruhig.“ Juri Andruchowytsch macht eine kleine Pause und blickt dann sorgenvoll ins Publikum: „In manchen ostukrainischen Städten wie Ssumy und Kirovohrad, in denen Janukowitsch letztendlich eine Mehrheit erhalten hat, kamen jedoch abends Rollkommandos und stahlen die Wahlurnen, damit dieser Vorsprung erhalten bleibt. Die Polizei stand daneben und hat nichts getan.“
Am 10. November erklärte zwar die staatliche Wahlkommission Juschtschenko mit denkbar knappen 39,78 % vor seinem Rivalen mit 39,32% zum Sieger des ersten Durchgangs. Nach Umfragen verschiedener NGOs am Wahltag soll er allerdings über 50% der Stimmen erhalten haben.
Auch der vorläufige Bericht der OSZE-Wahlbeobachter zum ersten Wahlgang spricht von einer beträchtlichen Anzahl von Verstößen gegen europäische und demokratische Wahlstandards. Die freie Berichterstattung werde unter anderem durch so genannte temnyky, Richtlinien für die Medienberichterstattung im Sinne der Regierung, stark eingeschränkt. Bei Nichteinhaltung müssen Journalisten mit Konsequenzen bis zur Entlassung rechnen. „Juschtschenko wird in den staatlichen Medien mal als Faschist, ein anders mal als amerikanischer CIA-Spion bezeichnet“ klagt Andruchowytsch. „Eine der wenigen Möglichkeiten an neutrale Informationen zu gelangen ist Kanal 5, der über das Kabelnetz meist in Städten empfangen werden kann. Allerdings wurde auch auf Kabelbetreiber Druck ausgeübt, so dass ihn viele aus ihrem Angebot entfernten.“
Aber nicht jede Instanz lässt sich von der Administration korrumpieren. Als der russische Präsident Putin, der im Wahlkampf Ministerpräsident Janukowitsch massiv unterstützt, die Aufstellung von Wahlurnen in Russland für Exil-Ukrainer anbot, widersetzte sich das oberste Gericht in Kiew und erklärte die Aktion für rechtwidrig.
Auch bei der Jugend formt sich inzwischen ein eigenes, demokratisches Bewusstsein. Ihnen zur Hilfe kamen Studenten aus Serbien und Georgien, die dort schon wertvolle Erfahrungen mit friedlichen Revolutionen und Protesten sammeln konnten. Sie geben Hilfestellung in der Organisation, Vernetzung und Kommunikation trotz strenger staatlicher Aufsicht. Als Ergebnis ist die Jugendbewegung PORA entstanden. Sie hat unter anderem das Projekt GlobalVote2004 Ukraine ins Leben gerufen, um eine Kontrolle der offiziellen Stimmenauszählung zu organisieren.
Die Augen beginnen zu leuchten, als Juri Andruchowytsch am Ende der „Lesung“ von Kiew erzählt. Er beschreibt, wie dort ein orangenes Meer aus Aktivisten friedlich durch die Straßen strömte, stolz seine demokratischen Grundrechte einforderte und sich nicht durch die neuesten Meldungen einschüchtern ließ.
„Die beiden Kandidaten spalten das Land nicht in Ost und West. Es ist ein Kampf zwischen einer autokratischen und demokratischen Weltanschauung. Und wir kämpfen für die demokratische Zukunft der Ukraine“, sagt Andruchowytsch mit eisiger Entschlossenheit in den Saal. Die absolute Mehrheit des deutschen Publikums hätte er sicher. Aber das ist leider nicht wahlberechtigt.