Zwischen Ost und West
„Koblenz ist eine schöne Stadt, aber Lwiw ist mein Zuhause”, sagt Witali in fehlerfreiem Deutsch. Vier Jahre lang hat der 38-Jährige in Deutschland als Automechaniker gearbeitet, bevor er mit dem Ersparten in Lwiw seinen eigenen Reparaturbetrieb aufgemacht hat. Der gebürtige Russe hat sich auf Mercedes spezialisiert. Er ist einer vom neuen Typ, einer, der den Westen kennt, einer der zugleich weiß, wie er mit seinen Kunden hier in Lwiw umgehen muss. Von denen erinnern viele eher an die Neureichen aus Moskau: breitschultrige Männer um die Vierzig, mit Goldkettchen um Arm oder Hals, mächtige Sonnenbrillen im kurz geschorenen Haar. „Bei uns läuft noch Vieles am Staat vorbei”, sagt Witali mit einem Ausdruck, der Bedauern zeigen soll, „aber die Ukraine ist eben ein großes Haus, das man nicht so schnell aufräumen kann.”
Die Hauptstadt des Westflügels dieses Hauses ist Lwiw. Eingerahmt von grünen Hügeln symbolisiert diese Stadt, die heute knapp 800.000 Einwohner zählt, das Tor der Ukraine nach Europa. Über Jahrhunderte hinweg war sie wichtiger Handelsknoten auf dem Weg von Mitteleuropa nach Russland. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten hier Polen, Ukrainer, Juden, einige Tausend Österreicher, Deutsche und kleine Gruppen von Griechen und Armenier zusammen.
Die Stadt hat nicht nur viele Herren und Bewohner gesehen, sondern auch viele Namen bekommen. Kern aller dieser Namen ist Leo, der Löwe, das Wappentier der Stadt. Leopolis nannten sie die Griechen, Lwiw nennen sie die Ukrainer, Lemberg die Österreicher und Lwow die Polen. Die letzten Deutschen und Österreicher gingen mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, denn der Hitler-Stalin-Pakt schlug Lemberg der Sowjetunion zu. 1941 rückte die Wehrmacht ein und mit ihr kamen die SS-Sonderkommandos, die die jüdische Bevölkerung von Lemberg und anderen galizischen Städten nahezu komplett auslöschten. Die verbliebenen Polen wurden nach dem Krieg ins heutige Westpolen umgesiedelt. Geblieben sind nur die Ukrainer, die früher vor allem in den Dörfern um Lwiw siedelten und heute die große Mehrheit der Stadtbevölkerung stellen.
Früher war die Stadt vor allem polnisch geprägt. Die Polen regierten die Stadt vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 ernannten die Österreicher Lemberg dann für knapp 150 Jahre zur Hauptstadt ihrer Provinz Galizien. In dieser Zeit fügte die kaiserliche Regierung den von italienischen Architekten errichteten Renaissancegebäuden der UNESCO-geschützten Altstadt Prachtbauten im klassizistischen Stil und ungezählte Jugendstilbauten hinzu: Oper, Hauptpost, Theater, Universität, Banken, Cafés im Wiener Stil. Die Vorstädte mit ihren von Stuckfassaden verzierten Mietshäusern entstanden. Überall scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: das verblichene Gelb an den rissigen Wänden, das grobe Kopfsteinpflaster auf den breiten Gassen, auf denen nur ab und an ein Lada geparkt steht und die von den fahlgelben Straßenlaternen des Nächtens nur spärlich erleuchtet werden, die Fliesen in den Toreinfahrten, die auf die Firma verweisen, die die Arbeit ausgeführt hat, dazu die „antiken“ Trambahnen die auf noch älteren Gleisen durch die Altstadt rattern.
Lwiws Altertümlichkeit strahlt Ruhe aus. Hektik ist dieser Stadt fremd. Schriftsteller wie der inzwischen auch in Deutschland bekannte Juri Andruchowitsch finden Nischen aller Orten, in denen sie ihr Bohéme-Dasein ausleben können. Dieses beruhigende Flair schätzen auch der Geschäftsmann Witali ebenso wie Lebenskünstler Kolja. Gleichzeitig aber wünschen sich beide ein wenig mehr Modernität im Lwiw des Jahres 2004.
„Manchmal fehlt hier tagelang das heiße Wasser und die Straßen haben so viele Schlaglöcher, das Auto fahren zur Herausforderung wird”, klagt Kolja. Der 33-Jährige hat seine Erdgeschosswohnung zu einem Kunstladen mit integrierter Galerie umgebaut. Wenn er sich mit Künstlerkollegen trifft, dann meistens zu Hause: „Häufig sitzen wir bei mir und jeder bringt sich seine Getränke selbst mit.”
Das moderne Leben findet woanders statt, im ungeliebten Kiew, der Hauptstadt, 500 Kilometer östlich. Dort wird gewerkelt, Geld verdient und gefeiert. Dort wird mehrheitlich Russisch gesprochen. In Lwiw dagegen, in diesem schattigen Winkel, hat sich das Ukrainische erhalten. Die Stadt versteht quasi als Geburtsort des Ukrainertums und fühlt sich Westeuropa zugehörig. Immer noch ist eher Wien der Bezugspunkt und nicht Moskau.
Die Existenz der schönen Altstadt mit ihrer in Stein gehauenen Geschichte wirkt dennoch manchmal wie zufällig. Eine Vermarktung des architektonischen Schatzes, wie sie in vergleichbaren Städten wie Prag, Krakau oder Vilnius längst bis zum Überdruss betrieben wird, steckt noch in den Kinderschuhen. Alles andere würde auch dem Geist von Lwiw nicht entsprechen.
Direkt hinter Koljas Galerie erhebt sich, kaum 500 Meter von der Oper entfernt, die hohe Mauer des Gefängnisses. Es war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das Kloster des Brigittenordens, bevor es umfunktioniert wurde. Dabei ist es bis heute geblieben. Solche Informationen zu bekommen, ist Glückssache. Es sei denn, man kennt Diana Konarjewa. Doch die von ihr geleitete Touristeninformation liegt gut versteckt in einem kleinen Büro am Rande der Altstadt. Keine Hinweisschilder, kein Bürger, der von ihrer Existenz wüsste. „Bis vor drei Jahren waren wir direkt am Marktplatz im Rathaus untergebracht, doch der Bürgermeister brauchte dort Platz”, erläutert die energische Frau ihr Schicksal. Auch den einzigen Klub der Stadt, untergebracht im städtischen Puppentheater ‘Ljaljok’ habe der Bürgermeister schließen lassen: „Für ihn ist Lwiw keine Touristenstadt.”
Tatsächlich fallen im Straßenbild kaum Touristengruppen auf, sieht man einmal von polnischen Heimwehtouristen ab, die der ehemals zu Polen gehörenden Stadt nachspüren. Dafür flanieren die Einheimischen mit Begeisterung durch ihre Stadt. Vor allem auf der zentralen Achse, dem ‘Swobodni Prospekt’, dem “Freiheitsboulevard”, der im 19. Jahrhundert über den kleinen Fluss Poltwa gebaut wurde. Hier und in den umliegenden Straßen bestimmen Lebensmittelläden und kleine Fachgeschäfte das Bild. Kaum eine Spur von ‘Boss’, Armani’ oder auch ‘H&M’. Auch keine Souvenirgeschäfte oder Nobelrestaurants.
Eines der „altmodischen” Geschäfte liegt direkt hinter dem zentralen Rathausplatz in der Altstadt. Hinter großen, milchigen Scheiben, mitten im Zentrum, verbirgt sich eine Änderungsschneiderei. Mehr als jedes – nicht vorhandene – Schild weist das Rattern der museumsreifen Nähmaschinen den Weg ins Innere. Acht Näherinnen sitzen hier an ihren Tischen. Elena ist eine von ihnen. Sie steht kurz vor ihrer Pensionierung und hat viel zu erzählen. “Die Menschen denken hier noch so wie früher”, sagt sie und meint die sowjetische Zeit.
“Njema”, “Gibt’s nicht”, lautet in der Tat noch eine der Standardantwort auf alle Fragen, die ein wenig jenseits des jeweiligen Aufgabengebietes liegen, und die generell das Ende der Kommunikation bedeutet. Anders ist das in der Näherei, wo jede der Frauen auf eigene Rechnung arbeitet. „Ich verdiene je nach Auftragslage, aber es ist nie wirklich viel”, erzählt Elena. Aber wohl immer noch mehr als die staatliche Mindestrente: “Ich werde wohl auch nach meiner Pensionierung weiter zur Arbeit gehen. Oder glauben Sie, dass man mit 150 Hriwna (etwa 25 Euro) im Monat weite Sprünge machen kann?”
So wie Elena müssen viele alte Menschen in Lwiw ihre spärliche Rente aufbessern, mit dem Verkauf von selbst gepflückten Blumen oder Sonnenblumenkernen etwa.
Während die Architektur in so Vielem westlichen Städten wie Wien oder Berlin gleicht, ist das Straßenbild noch ein ganz Anderes. Die EU scheint von hier ein Ziel in weiter Ferne. Schon zum kaum 70 Kilometer westlich gelegenen Nachbarland und EU-Neumitglied Polen sind die Unterschiede groß. Dafür aber hat sich Lwiw einen Charme bewahrt, den andere Städte in Westeuropa auch mit viel Geld nicht zurück holen können. Das Denkmal geschützte Lwiw ist eine Stadt, die noch für und mit ihren Bewohnern lebt und nicht für die Touristen. Es klingt paradox: Aber gerade dies macht sie für Touristen so interessant.