Ukraine

Verschwörungstheorien und vorbestrafte Kandidaten

Für Olexandr Turtschinow ist die Sache klar: „Wahlkampf in der Ukraine ist wie Bürgerkrieg“, sagt der Abgeordnete des ukrainischen Parlaments. Besonders sein Wunschkandidat für das Präsidentenamt, der westlich orientierte und liberale Politiker Viktor Juschtschenko, sei immer wieder Zielscheibe von Verleumdungen und Intrigen. Der jetzige Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, der selbst das höchste Amt im Staate an sich reißen möchte, setzte seine ganze Machtfülle ein, um seinen Herausforderer zu diskreditieren. Mal wurde Juschtschenko mit einer rechtsradikalen Gruppierung in Verbindung gebracht, dann fand man Anti-Juschtschenko-Plakate, die den Politiker als Kriegstreiber George Bush persiflierten. „Dazu zählt der Anschlag auf das Leben unseres Kandidaten“, beklagt sich Turtschinow.

Nach einem Mittagessen mit dem ukrainischen Geheimdienstchef Igor Smeschko wurde Viktor Juschtschenko Anfang September mit einer mysteriösen Lebensmittelvergiftung ins Wiener Rudolfiner Krankenhaus eingeliefert, die hätte tödlich enden können. Die Erkrankung des 50-Jährigen ist deutlich sichtbar: Bei öffentlichen Auftritten wirkte der sonst kerngesunde Kandidat um Jahre gealtert. Er beschuldigt die Regierung, den Anschlag auf sein Leben verübt zu haben. Die Anhänger Janukowitschs wiegelten ab. Juschtschenko hätte sich das ganze Theater ausgedacht, um mit einer Verschwörungstheorie bei den Bürgern zu punkten.

Die Theorie eines geplanten Giftmordes findet in der ukrainischen Bevölkerung Anklang. Den meisten Ukrainern sitzt die Gongadze-Affäre noch in den Knochen. Vor vier Jahren war der ukrainische Journalist enthauptet aufgefunden worden. Der scheidende Präsident Leonid Kutschma konnte den Vorwurf der Mitwisserschaft nie vollständig entkräften. Zu jener Zeit entstand die Oppositionsbewegung mit Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko an der Spitze. Damals wie heute sagen die beiden der korrupten Staatsmacht und der durch Clans und Oligarchen dominierte Wirtschaft den Kampf an. „Das unterscheidet uns von Russland und Belarus. Wir haben eine Opposition und wir werden siegen“, beschwört der Parlamentarier Turtschinow die Schicksalsstunde der Ukraine herauf.

Nur der amtierende Ministerpräsident Viktor Janukowitsch hat die Macht, den Wahlsieg Juschtschenkos zu verhindern. Er kontrolliert den Großteil der Medien, die staatliche Verwaltung und bekommt außenpolitisch Rückendeckung von Wladimir Putin. Auch sonst ist er nicht zimperlich. Zweimal wurde der 54-Jährige wegen Körperverletzung und Raub verurteilt. Vor allem im Fernsehen ist der Premier ständig zu sehen. „Die Präsens Janukowitschs in den Medien übersteigt den gesunden Menschenverstand“, mahnt Oleksandr Tschekmyschew. Er ist Leiter der Nichtregierungsorganisation „Monitor für freie Wahlen“. Sein Ziel war es, durch Wahlbeobachter die erwarteten Fälschungen seitens der Regierung zu stoppen.

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europarat entsendet über 600 Beobachter. Schon im Vorfeld der Wahlen kritisierten beide Institutionen die Einschüchterung und Behinderung der Opposition. Frei und fair seien die Wahlen nicht verlaufen. Wie sehr die Stimmung angeheizt ist, zeigten schon die Ausschreitungen am 23. Oktober. Bei einer Großkundgebung der Opposition in Kiew, wo sich 50.000 Anhänger Juschtschenkos versammelten, gab es ein Dutzend Verletzte. Daraufhin verhängte der Bürgermeister Kiews, Oleksandr Omeltschenko, ein Demonstrationsverbot für die Hauptstadt. Doch Schlimmeres sei nicht zu erwarten, hofft Tschekmyschew.

Sollte wegen möglicher Manipulationen der nächste Präsident Janukowitsch heißen, werde es trotzdem keine dauerhaften Massenproteste geben, glaubt der Medienexperte. „Wir sind nicht Georgien. Für einen Umsturz sind die Ukrainer viel zu friedlich“, meint der Vertreter der Zivilgesellschaft. Ohnehin glaubt die Mehrheit der Bevölkerung, es sei egal, wer Präsident werde. An der Politik ändere sich nichts. Nur Juschtschenko zeige sich einfach sympathischer, meinen die meisten Ukrainer.


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