Ukraine

Schlammschlacht im Niemandsland

Auf hundert Meter Straße passen dreieinhalb Geschichten, aber Ljuba würde am liebsten vier unterbringen. Früher hat die resolute kleine Dame Touristen durch die ganze Sowjetunion geführt. Als die zusammenbrach, ist Ljubas Universum gewaltig geschrumpft, gleichzeitig hat es sich mit unzähligen neuen Geschichten gefüllt. Mehr Erzählstoff auf weniger Welt: Für Ljuba bedeutet das doppeltes Sprechtempo – die Gäste sollen jeden Meter Kiews würdigen können, der an den Fenstern des Reisebusses vorbeizieht.

Vielleicht sind aber auch nur die Busse schneller geworden, seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Ljuba jedenfalls hat Mühe, all ihre Nachwende-Beobachtungen auf dem Chreschtschatik-Boulevard unterzubringen: sei es zur postsowjetischen Nationalbesinnung, die Spuren im Kiewer Stadtbild hinterließ – „zur Linken das Hotel Moskwa, das heute Ukraina heißt und von niemandem so genannt wird“; zu den westlichen Nobelkarossen, die den Reisebus immer wieder zu Bremsmanövern zwingen – „im Westen sind sie aus Kruppstahl, bei uns aus Diebstahl“; oder zu Kiews Bürgermeister Alexander Omeltschenko – „wie alle, die zu lange an der Macht sind, hat er sich verändert, denn in der Ukraine grassiert eine Krankheit namens Machtsucht“.

Eine Krankheit, deren augenfälligstes Symptom der Präsidentenwahlkampf ist, auch wenn in Ljubas Reisebus nicht viel davon zu spüren ist. Hier und da ein Wahlplakat des Premierministers Viktor Janukowitsch, von den übrigen 26 Kandidaten ist nichts zu sehen. Auch Ljuba hält sich zurück: Der ukrainische Humor sei eine feine Sache, sagt sie, „aber die Chefs lässt man besser in Ruhe“. Deshalb verschweigt sie auch den Witz, der sonst überall in Kiew erzählt wird: Am 1. November trifft Janukowitsch den Leiter der Wahlkommission. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, sagt der. „Die gute ist: Sie sind Präsident.“ „Und die schlechte?“ „Niemand hat für Sie gestimmt.“

Am Sonntag wählen die Ukrainer ihren Präsidenten, und mit wem man auch spricht in dieser Stadt, fast niemand glaubt, dass zwischen Wählerstimmen und Ergebnis ein nennenswerter Zusammenhang bestehen wird. Die Nachwendejahre haben ihre Spuren hinterlassen: 13 Jahre lang mussten die Ukrainer ohnmächtig zusehen, wie ein korruptes Regime die Wirtschaft des Landes an Günstlinge verhökerte und die Ersparnisse der Bevölkerung in Luft aufgehen ließ. „Kutschma war ein Gauner, unser nächster Präsident wird auch einer sein“, sagt der Gemüsehändler, der mit seinem klapprigen Stand 200 Dollar im Monat erwirtschaftet – schwarz. „Janukowitsch brüstet sich mit Renten- und Stipendienerhöhungen, die nicht mal die Inflation ausgleichen“, sagt die Studentin, die Wahlpropaganda für einen der Nebenkandidaten macht: „Der ist auch nicht besser, aber er zahlt fünf Griwen pro Unterschrift.“ Und Ljuba erzählt, dass in den Schulen die Eltern für Bänke und Bücher zusammenlegen müssen, weil vom Staat kein Geld kommt: „Gleichzeitig werden auf dem Schulhof Drogen verkauft. Warum wird bei uns immer nur das Schlechte aus dem Westen importiert?“

Der Wahlkampf hat an der resignativen Stimmung wenig ändern können. Erst wollte Leonid Kutschma eine verfassungswidrige dritte Amtszeit, dann verlegte er sich auf eine kontrollierte Machtübergabe an seinen Premierminister. Seitdem agitiert die Regierung unverhohlen für Viktor Janukowitsch, und sämtliche staatlich kontrollierten Einrichtungen helfen. In den Nachrichten zeigen die ersten Beiträge stets den Premierminister bei der Amtsausübung. Studenten erzählen von Hochschulverweisen wegen oppositioneller Umtriebe, und in der Provinz lassen Lokalpolitiker ganze Eisenbahnzüge mit Janukowitschs Konterfei tapezieren.

Trotzdem liegt der Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko in Umfragen derzeit Kopf an Kopf mit Janukowitsch – unter den gegebenen Umständen fast ein Wunder. Allerdings setzt auch Juschtschenko auf einen radikal personalisierten Wahlkampf, in dem er sich zum Gegenpol des Premierministers stilisiert: einerseits also der korrupte Machtpolitiker Janukowitsch, andererseits die demokratische Lichtgestalt Juschtschenko – der Garant für Presse- und Meinungsfreiheit, die Trennung von Kapital und Macht und ein pluralistisches Parteiengefüge. Dazwischen bleibt beängstigend wenig Raum für Inhalte: „Ein Programm haben weder Janukowitsch noch Juschtschenko“, sagt Jegor Sobolew, der Vorsitzende der ukrainischen Journalistengewerkschaft. „Was die beiden nach der Wahl tun werden, lässt sich höchstens erahnen.“

Viel Raum aber bleibt für Verleumdungen und Intrigen. Nach einem Mittagessen mit dem Geheimdienstchef musste Juschtschenko Mitte September mit einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Danach wirkte der charismatische Politiker um Jahre gealtert: Mit aufgedunsenen, verzerrten Zügen beschuldigte Juschtschenko vor dem Parlament die Regierung, ihn vergiftet zu haben. Aus Janukowitschs Lager hieß es, die Opposition habe sich das Theater nur ausgedacht, um Sympathiepunkte und Medienaufmerksamkeit einzuheimsen, und Janukowitsch fühlte sich offenbar zur Retourkutsche genötigt: Als er Anfang Oktober bei einem Wahlkampfauftritt mit Eiern beworfen wurde, verlor er das Bewusstsein. Die Fernsehbilder zeigten nur ein zerplatztes Ei auf seinem Anzug – während die Staatsanwaltschaft pflichtschuldig einen Stein sicherstellte.

Seitdem gleicht der Wahlkampf immer weniger einer politischen Auseinandersetzung. Der Abgeordnete Olexandr Turtschinow bezeichnet ihn gar als „Bürgerkrieg“. Irgendwo zwischen diesen Koordinaten bewegen sich auch die Reaktionen in der Bevölkerung: Die einen sind belustigt, andere verängstigt. Selbst Anhänger Viktor Juschtschenkos glauben, dass in den Reihen ihres Kandidaten gewaltbereite Nationalisten mitmarschieren, die im Falle einer Niederlage Unruhe stiften könnten. Andere wollen gar gehört haben, dass rund um Kiew bereits Panzer aufgefahren sind.

„Was ich glaube? Ich glaube überhaupt nichts mehr.“ Ljuba ist mit ihrem Reisebus auf dem Andreasstieg angekommen, einer malerischen Altstadtgasse. Sie deutet auf das Geburtshaus des Schriftstellers Michail Bulgakow, der hier 1923 den Roman „Die weiße Garde“ schrieb. Er spielt in der Revolutionszeit, in der Kiew 14 Mal in Folge besetzt wurde, von Bolschewiken und Zaristen, von deutschen Truppen und ukrainischen Freischärlern. Wenig später kam der Zweite Weltkrieg, und wieder lag das Land zwischen den Fronten. Auf einem Trödelstand neben dem Bulgakow-Haus liegt ein SS-Helm zwischen russischen Militärmützen, zu haben für stolze 750 Griwen, rund 120 Euro. Die Russenmützen sind deutlich billiger.

Ein anderes Erbe der Kriegswirren springt nicht so leicht ins Auge. Der Ostteil der Ukraine gehörte seit 1918 zur Sowjetunion, der Westteil erst seit dem Zweiten Weltkrieg, und bis heute läuft quer durchs Land eine mentale Trennlinie. Der Schriftsteller Andrij Kurkow spricht sogar von zwei verschiedenen Staaten: einem ukrainischsprachigen, europäisch geprägten Westen und einem weitgehend russifizierten Osten. „Die Westukrainer wünschen sich einen intelligenten Politiker als Präsidenten, die Ostukrainer wollen einen harten Kerl“, glaubt Kurkow. Juschtschenko und Janukowitsch erfüllen die Klischees: auf der einen Seite der eloquente Oppositionspolitiker, dessen Europakurs vor allem in der Westukraine Anklang findet, auf der anderen Seite der Premierminister, der zweimal im Gefängnis saß, wegen Raubes und Körperverletzung. Juschtschenko will sein Land in die EU führen – sagt er. Janukowitsch will enge Verbindungen mit Moskau pflegen und Russisch zur zweiten Staatssprache machen – sagt er. „Immer, wenn Wahlkampf ist, wird das Zusammenwachsen der Ukraine um Jahre zurückgeworfen“, sagt Kurkow.

Auf dem Chreschtschatik-Boulevard wird es dunkel, im Dämmerlicht blinken Reklametafeln – kyrillische, ukrainische und lateinische Buchstaben tanzen chaotisch durcheinander. Kiew ist weder Westen noch Osten. Es ist die Hauptstadt eines Riesenlandes, das wie ein gestrandeter Wal zwischen Russland und Europa liegt und nicht weiß, wo es hinwill. Und wohin es darf. Aus Brüssel kommt nicht mal mehr die Andeutung einer Beitrittsperspektive.„Der Westen ist es müde geworden, die Ukraine ernst zu nehmen“, sagt Andrij Kurkow. Und lächelt, als sei er es selbst müde geworden.

Der Reisebus kommt ruckelnd zum Stehen, Ljuba sieht unglücklich aus: Da wären noch viele Geschichten gewesen. Wenigstens ein Gedicht will sie ihren Gästen noch vortragen, über die Ukraine. Sie hat es selbst geschrieben, auf Deutsch, deshalb holpert es ein bisschen. Ein Vers aber hallt nach: „Wir dürfen uns nicht klein kriegen lassen / Denn auf unsere Chefs ist kein Verlass.“


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