Hinter lettischen Gittern
Von Alexandra Frank (E-Mail erreichbar: post@alexandrafrank.de)
Liepaja (n-ost). Es ist dunkel, es nieselt und ein kalter Wind weht vom Meer herüber. Dennoch wagt keiner, sich auch nur zu rühren. In einer langen Reihe stehen wir Schulter an Schulter nebeneinander und starren auf das finstere Backsteingebäude und die drei uniformierten Männer, die sich vor uns aufgebaut haben. Die meisten Fenster des Gebäudes sind zugemauert, lediglich aus zwei kleinen, vergitterten Öffnungen dringt etwas Licht heraus. Feine Regentropfen fallen in die Pfützen, die sich auf dem mit Schlaglöchern durchsetzten Platz angesammelt haben.
Lautes Gebrüll lässt mich und die übrigen Gefangenen zusammenzucken. Einer der Uniformierten schreitet an uns vorbei, mustert jeden einzelnen. Ab und zu muss einer vortreten, wird angeschrieen. Ich verstehe nichts, denn die Befehle erfolgen in einer mir fremden Sprache. Lettisch, zum Teil auch auf Russisch. Doch Lautstärke und Tonfall verheißen nichts Gutes. „Dies ist kein normales Gefängnis, dies ist ein Militärgefängnis. Das werdet ihr noch zu spüren bekommen“, flüstert mir der junge Mann zu, der mir als Dolmetscher zur Seite gestellt wurde. Auch er steht kerzengerade neben mir in der Reihe und schaut ernst zu seinen Befehlshabern hinüber.
Das ganze Gelände ist von einem hohen Zaun umgeben, der von rostigem Stacheldraht gekrönt ist. Neben dem Gittertor, durch das wir, fünfzehn Männer und Frauen, vorhin hineingeführt wurden, befindet sich ein Wachturm, von dessen Aussichtsfläche man tagsüber weit auf die umliegenden Felder und Baracken blicken kann. Doch jetzt ist von all dem nichts zu sehen. Der Himmel ist bewölkt. Kein Mond, keine Sterne und der Bretterzaun erlaubt keinen Blick nach außen. „Vortreten“, übersetzt mein Dolmetscher das Gebrüll des Wachmanns. „Was gibt es hier zu grinsen? Das wird Dir noch vergehen.“ Bis auf zehn Zentimeter ist der Uniformierte an einen jungen Mann herangetreten und schreit ihm ins Gesicht. Dann führt er ihn auf die Mitte des Appellplatzes und zeigt auf den Boden. Der Häftling beugt sich nieder und beginnt Liegestützen zu machen. Fünf. Zehn. Fünfzehn. Zwanzig. Seine Jacke färbt sich dunkel vom Regen, seine Hände stehen in einer Pfütze, sein Keuchen ist über den ganzen Platz zu hören. Er hat Glück. Nach einer Weile hat ein Wächter Erbarmen, und er darf sich wieder in die Reihe eingliedern.
Nicht alle haben Glück. Zwischen uns und dem roten Backsteingefängnis, ragen zehn übermannshohe Betonpfeiler aus dem Boden empor. Am äußersten Pfahl, außerhalb des fahlen Lichtscheins, ist eine in sich zusammengesackte Gestalt angebunden. Sie rührt sich nicht. Kopf und Oberkörper hängen vorne herüber und in der Dunkelheit sind lediglich ein langer Mantel und ein russischer Pelzhut zu erkennen. Der Uniformierte schreitet die Reihe entlang, rückt näher, bleibt schließlich vor mir stehen. Ich wage kaum zu atmen. Meine Füße sind vor Kälte kaum noch spüren, meine Beine sind steif vom Stehen, mein Rücken ist kerzengerade.
Ich muss den Kopf anheben, um in die Augen des Wachmanns zu sehen. Sie mustern mich. Eine Minute lang. Trotz der Dunkelheit und einer Schirmmütze, die die halbe Stirn bedeckt, stechen sie aus dem hageren Gesicht hervor. Darunter hohe Wangenknochen. Ein säuberlich geschnittener Schnurbart. Das Gesicht verrät keine Gefühlsregung. Darunter, an der Brust, befinden sich verschiedene militärische Abzeichen. Um die Hüfte hängt ein Munitionsgürtel, rechts und links stecken zwei Pistolen im Halfter. Die rechte Hand des Mannes legt sich auf die Waffe. Eigentlich sollte mein Herz vor Angst stehen bleiben. Doch ich weiß, dass mir nichts passiert. All dies ist nicht echt. Der Uniformierte ist wahrscheinlich im wirklichen Leben Bäcker oder Elektrotechniker, meine Mitgefangenen sind Schüler und harmlose Familienväter, und ich bin nur zu Besuch in Liepaja, der drittgrößten lettischen Stadt, 205 Kilometer südwestlich von Riga oder 24 Fährstunden von Rostock entfernt.
Doch die realitätsnahe Vorführung von „Hinter Gittern“ im Militärgefängnis des ehemaligen Kriegshafens Karosta ist mehr als beängstigend. Vielleicht, weil das Gefängnis bis 1997 in Betrieb war, vielleicht, weil die Wärter nicht in Kostümen, sondern in echten Uniformen auftreten, vielleicht, weil sie ihr Spiel so überzeugend spielen, dass man manchmal Angst hat, es würde aus dem Ruder laufen. Zum Beispiel eine weitere Viertelstunde im Regen, rund 30 Kniebeugen und einen Dauerlauf ins Gefängnis später. Ich befinde mich in einer Zelle, mit dem Gesicht zur Wand, die Arme erhoben, Hände an die Wand gepresst und sehe nur Dunkelheit. Alles ist schwarz. Ich habe keine Ahnung, wer sich mit mir in der Zelle befindet, kann nur das Flüstern mehrerer lettischer Mitgefangener ausmachen. Wenn ihr Flüstern zu laut wird, donnert es von außen gegen die Eisentür.
Unter meinen Händen blättert die Farbe der Wand ab, die Luft riecht nach Schimmel und die Feuchtigkeit des Bodens kriecht allmählich meine Beine hoch. Schon nach kurzer Zeit habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten oder gar eine halbe Stunde später wird die Tür aufgerissen und mein Name gerufen. Ich trete in den Gang hinaus und bin zunächst vollkommen blind. Der Gang ist düster, doch irgendwo an der Decke ist ein gleißendes Flutlicht angebracht, das mir direkt ins Gesicht scheint. Meine Augen reagieren nur mühsam auf die neue Situation. Im Gegenlicht mache ich die Silhouette eines Wärters aus. In Kopfhöhe durchdringt sein Atem wie Rauch die kalte Luft.
Plötzlich werde ich zur Seite gezogen. An mir vorbei taumelt ein Mann in braunen Mantel und Pelzmütze vorbei, im Gefolge zwei Uniformierte, die ihm ihre Gewehrkolben in den Rücken drücken. Der Gefangene vom Pfahl? „Ein Deserteur“, flüstert mir mein Dolmetscher zu. „Gesicht zur Wand“, grölt der Wärter mir zu. „Weg mit ihr!“ zu meinem Dolmetscher.
Weiter geht es im strammen Schritt in einen weiß gekachelten Raum. An der Wand hängt ein Porträt von Lenin. Davor steht eine blasse Krankenschwester, die mich auf eine Totenbahre drückt, die wohl als Krankenliege dient. Mein Dolmetscher erklärt mir, dass ich mich hinlegen und meinen Bauch frei machen soll.
„Tut das weh?“ „Wann wurden Sie am Blindarm operiert?“ „Wann waren Sie zuletzt beim Arzt?“ „Haben Sie gesundheitliche Probleme?“ Ihre kalten Hände drücken sich in meinen Bauch. Die Schwester untersucht mich, stellt weitere Fragen, macht sich Notizen. Der verrostete Gynäkologenstuhl, der in der Mitte des Raumes steht, bleibt mir zum Glück erspart. Nur noch ein Blick in meinen Mund, dann greift die blasse Hand der Krankenschwester auch schon nach einem Stempel, lässt ihn auf eine Karteikarte niedersausen und entlässt mich.
Von ihr aus geht es weiter. Weiter in den Nebenraum, wo ich mit einem Schild, das meine Häftlingsnummer zeigt, fotografiert werde. Weiter in die nächste lichtlose Zelle, wo ich wieder zehn Minuten verharre. Danach dieselbe Prozedur. Diesmal geht es wieder in Richtung Flutlicht in ein größeres, möbliertes Zimmer. An der Wand hängen Lenin und Stalin. Hinter einem Eicheschreibtisch sitzt ein Militär und raucht. Zahlreiche Abzeichen auf Brust und Schultern lassen auf seinen Rang schließen. Er dreht seine Schreibtischlampe direkt in mein Gesicht und stellt mir mit Hilfe meines Dolmetschers Fragen: „Wie ist Ihr Name? Was machen Sie? Wie sind Sie nach Lettland gekommen? Waren Sie an der Revolte beteiligt? Wer sind Ihre Mitstreiter?“ Schließlich fällt er mein Urteil. Drei Jahre, hier im Gefängnis, bis meine Identität geklärt sei.
Zehn Minuten später bin ich draußen. Mit einem heißen Tee im Bauch und drei Postkarten in der Tasche. Darauf sind Bilder von meinen Wächtern und von Kristers Krafts, meinem Dolmetscher, der normalerweise in die Rolle des Fotographen schlüpft. Als Erinnerung. An meine ersten und hoffentlich letzten Stunden in einem Militärgefängnis.
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Infokasten:
Karosta, zu Deutsch Kriegshafen, ist ein abgelegener Stadtteil der lettischen Küstenstadt Liepaja. Vor 100 Jahren vom Zaren gegründet war Karosta bis zur Unabhängigkeit Lettlands im Jahr 1991 militärisches Sperrgebiet.
Bereits 1905 saßen im Gefängnis der Garnison, das sich im Süden von Karosta befindet, Seeleute ein, die an revolutionären Ereignissen teilgenommen hatten. Unter der deutschen Wehrmacht wurden hier Deserteure hingerichtet. Als Sitz des KGB sowie zuletzt als Oberwacht für die Sowjetarmee und für Marinetruppe der lettischen Armee diente der Backsteinbau als Gefängnis. Die letzten von Häftlingen hinterlassenen Spuren an den Zellwänden stammen aus dem Jahr 1997.
Die historische Aufführung und Show „Hinter Gittern“, an denen die Zuschauer als Gefangene teilnehmen, fand erstmals im Herbst 2002 statt. Im ersten Jahr zählte sie rund 6.000 Besucher, darunter vor allen Schulklassen, denen auf diese Art die Schrecken der Vergangenheit veranschaulicht werden soll. Im Sommer kann man auch im Gefängnis übernachten.
Die Teilnahme kostet umgerechnet rund 3 Euro. Informationen und Anmeldung: Niederkurländisches Informationsbüro für Tourismus, Liela Straße 11, Liepaja. Tel.: +371-3480808. Die Mitarbeiter sprechen deutsch oder englisch.
Generelle touristische Informationen über Lettland: Baltikum Tourismus Zentrale Katharinenstraße 19-20, 10711 Berlin, Tel.: 030-89009091, www.baltikuminfo.de oder
Mare Baltikum Reisen, Eichenstraße 27, 20259 Hamburg, Tel. 040-494111, www.mare-baltikum-reisen.de
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Bilder:
Gefängnis 2:Souvenir aus dem Knast: Der Oberst und ein Wärter
Gefängnis 3: Souvenir aus dem Knast: Die Gefangenendateikarte.
Gefängnis 5: Das Gefängnis und ein Wärter von außen