Estland

Am Rande des Weltgeschehens


Von Alexandra Frank (E-Mail: post@alexandrafrank.de, Tel.: 0049-40-79 09 02 68)

Tallinn (n-ost). Das Spannendste, was die estnische Ostseeinsel Abruka zu bieten hat, ist wahrscheinlich ihre Entstehungsgeschichte. Als ein riesiger Kranich die Bewohner der sechs Kilometer weiter nördlich gelegenen Insel Saaremaas bedrohte, riss der Riese Suur Tõll eine Tanne samt Wurzeln aus und warf damit nach dem Vogel. Dieser wurde getroffen und stürzte ins Meer. Daraus entstand die Insel Abruka, die – mit sehr viel Phantasie allerdings – auch heute noch die Konturen eines Kranichs hat.
So steht es zumindest in einer der 189 mythischen Erzählungen über das Leben des Großen Tõlls, der fünfmal so groß wie ein normal gewachsener Mann gewesen sein soll und die estnischen Inseln nicht nur beschützte, sondern durch Kämpfe, Würfe oder auch durch Bewegungen im Schlaf formte.
Was die zehn Quadratkilometer große Insel außer ihrer sagenhaften Herkunft sonst so zu bieten hat, ist in ein paar Sätzen gesagt: Wildblumenwiesen und zahlreiche Insekten, ferner 92 Hektar geschützter Laubwald, der in Estland selten zu finden ist. Außerdem gibt es mehrere Farnarten und Schmetterlingsliebhaber können mit etwas Glück auf ihre Kosten kommen. Kurz, ein beschaulicher Rückzugsort für Naturliebhaber und Ruhesuchende, der es mit seinen nördlicher gelegenen Schwestern, Estlands großen Inseln Saaremaa (Ösel) und Hiiumaa (Dagö) in keiner Hinsicht aufnehmen kann.

Ein Inselchen, sollte man meinen, an dem das Weltgeschehen spurlos vorbeigeht und dessen Bewohner von je her friedlich ihrem täglichen Tun und Sein nachgehen konnten. Doch geht man über den kleinen Friedhof der Insel, wie es der bekannte estnische Schriftsteller Ülo Tuulik von Zeit zu Zeit tut, wird man eines Besseren belehrt. „Hundert Jahre ist der Friedhof erst alt und doch erinnern zwei Mahnmale an die wohl schlimmsten Ereignisse, die uns im letzten Jahrhundert heimgesucht haben“, sagt Tuulik, der auf der Insel aufgewachsen ist und jetzt noch den ganzen Sommer hier verbringt. Wenn man ihn in seinen Jogginghosen, verwaschenem T-Shirt und lose darüber getragener Windjacke sieht, meint man nicht, dass er den Rest des Jahres in der Hauptstadt Tallinn lebt. Schütteres Haar, weiße Dreitagebartstoppeln und das runde Gesicht, in dem die in tiefen Höhlen liegenden schmalen Augen fast zu verschwinden drohen, lassen ihn aussehen, wie einen, der in seinem Leben die Insel nicht verlassen hat, wie ein Dörfling, ein Insulaner, jemanden, der vom Rest der Welt nichts mitbekommt.

Liest man die Bücher des 64jährigen wird schnell klar, dass weder Ülo Tuulik noch die kleine Insel Abruka beim Gang der Zeit am Wegrand liegen gelassen wurden. Wohnten nach dem Ersten Weltkrieg noch 150 Menschen auf der Insel, sind es heute nur noch 17 feste Einwohner und die sind durchschnittlich 70 Jahre alt. Das große Schrumpfen begann mit dem Zweiten Weltkrieg, der in Tuuliks Werken eine bedeutende Rolle spielt. In seinem Hauptwerk „Dem Krieg im Wege“ beschreibt er seine eigenen Kindheitserlebnisse, nachdem die Außenminister Deutschlands und Russlands, Ribbentrop und Molotow, am 23. August 1939 das Schicksal Estlands bestimmt hatten und das kleine Land in dem „Nichtangriffspakt“ Russland zugeteilt wurde. „Estland war wie ein kleines Sandkorn, ein Spielzeug der Großmächte“, kommentiert Tuulik die Geschichte und streicht dabei über das bemooste Mahnmal auf dem kleinen Inselfriedhof, das an die Opfer der Sowjetischen Okkupation erinnert. Als Kind musste er mit ansehen, wie eine alte Freundin der Familie von einem betrunkenen russischen Soldaten erschossen wurde. Grundlos, wie der Soldat damals zugab, vielleicht als Rache dafür, dass deutsche Soldaten ihrerseits seine Familie in Weißrussland bei lebendigem Leib verbrannt hatten. Ülo Tuulik war damals vier Jahre alt und war mit seiner Familie vor den sowjetischen Besatzern und dem Krieg, der auch auf Abruka ausgefochten wurde, nach Deutschland geflohen. Das hat ihn geprägt und auch sein Werk, in dem er diese Kriegserlebnisse verarbeitet.
Doch auch die Insel, Abruka, die nach der Besatzung Jahrzehnte lang als westliche Außengrenze der Sowjetunion Sperrgebiet war, beschäftigen Ülo und seinen ebenfalls schreibenden Bruder Jüri Tuulik. „Für mich bedeutet dieser Fleck Erde Heimat und Inspiration, er ist mein Geburtsort und Grabstätte meiner Eltern“, sagt Tuulik und auch die meisten Helden aus den Werken seines Bruders Jüri liegen hier begraben.

Nur ein Thema findet in den Büchern der Brüder keine Erwähnung. Ein Ereignis, das ziemlich genau 50 Jahre nach dem tragischen Kindheitserlebnis Tuuliks geschah, drei Jahre, nachdem Estland endlich in die ersehnte Unabhängigkeit gegangen war.
„Im September 1994, als noch 50 Menschen die Insel bewohnten, wollten sich acht junge Leute von hier, darunter meine beiden Töchter und ihre Ehemänner, ein paar schöne Tage in Schweden machen“, entsinnt er sich. „Leider“, so dachten wir damals, „mussten die Töchter dann doch arbeiten und konnten nicht mit.“ Also gingen fünf Inselbewohner, ein Zehntel von Abrukas Bevölkerung, an Bord der Estonia, die in der stürmischen Nacht vom 28. September 1994 vor der Küste Finnlands unterging und 852 Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Tod riss. Jüngst fragte ein ausländisches Filmunternehmen Tuulik, ob er über diese Tragödie für sie ein Drehbuch schreiben würde. Jetzt, zehn Jahre später, wäre es Zeit für einen Film. Er lehnte ab. „An Bord war mein Schwiegersohn und weitere Freunde und Familienmitglieder. Ich will damit keine Geschäfte machen, eine derartige Tragödie sollte keine kommerzielle Angelegenheit werden“, sagt Tuulik und seine ausgeprägten Stirnfalten vertiefen sich noch ein wenig mehr während seine Augen über den Friedhof schweifen. Einem Friedhof, auf dem die Helden und Opfer der Geschichte begraben liegen. Einem kleinen Friedhof, der von den wenigen Touristen, die sich auf die Insel verirren, kaum wahrgenommen wird. Für sie gibt es wenig Interessantes auf Abruka, nur die idyllische Natur, die Ruhe und vielleicht die mythische Entstehungsgeschichte der Insel. Ein Ort, an dem das Weltgeschehen spurlos vorübergeht, wie sie meinen.

*** Ende ***

INFOKASTEN:

Der Untergang der Estonia (Von Alexandra Frank)
In einer stürmischen Nacht vom 27. auf den 28. September 1994 ging das estnische Fährschiff M/S Estonia, das zwischen dem estnischen Tallinn und dem schwedischen Stockholm verkehrte, vor der Südküste Finnlands unter. Bei dem schwersten Schiffunglück in der europäischen Nachkriegsgeschichte wurden mindestens 852 Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Tod gerissen, lediglich 137 Menschen überlebten. Die genaue Anzahl der Schiffinsassen konnte bis heute nicht geklärt werden, da zum damaligen Zeitpunkt keine Passagierlisten geführt wurden. Die meisten Opfer stammten aus Schweden und Estland, aber auch mindestens fünf Deutsche starben in den Fluten der Ostsee.

Ebenfalls unklar ist die Ursache der Tragödie. Aus ungeklärten Gründen öffnete sich die Bugklappe der Fähre, so dass der Innenraum des Schiffes voll Wasser lief. Aussagen überlebender Crewmitglieder zufolge sollen erste Schwierigkeiten kurz nach Mitternacht aufgetreten sein, etwa fünf Stunden, nachdem die Estonia den Tallinner Hafen verlassen hatte. Etwa eine Stunde später wurde per Funk der erste Notruf gesendet, bevor die Passagierfähre 30 Minuten später von den Radarschirmen verschwand. Als das erste Rettungsschiff etwa eine Stunde nach Untergang am Unglücksort eintraf, war es aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse schwierig, Überlebende aus den Fluten zu bergen. Da die Wassertemperatur nur 13 Grad betrug, kam die Hilfe für die meisten Menschen zu spät, sie starben an Unterkühlung.

Kurz nach dem Unglück beauftragten die betroffenen Länder Estland, Schweden und Finnland eine Untersuchungskommission, deren Abschlussbericht allerdings erst 1997 vorlag. Demnach hätten Konstruktionsmängel den Untergang der Estonia verursacht. Dieser Bericht ist allerdings nicht nur von der Papenburger Meyer-Werft, die das Schiff 1980 erbaut hatte, sondern auch von internationalen Experten, Medien und Zeugen angezweifelt worden. Lückenhafte Ermittlungen, Schlamperei oder gar bewusste Verfälschung werden der Havariekommission vorgeworfen. Ein von der Meyer-Werft beauftragtes Expertenteam, das u.a. Überlebende befragte, kam zu dem Ergebnis, dass es vielmehr eine Explosion an Bord gegeben hätte und vermutet einen Sprengstoffanschlag. Dubiose Löcher und ein später wieder verschwundenes Päckchen auf den Aufnahmen von Tauchern sollten dieses belegen.
Welche Version die richtigere ist oder ob die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt, konnte bis heute nicht geklärt werden. Aber Versuche, der schwedischen Regierung, das Schiffwrack mit einem Betonmantel zu umhüllen, was Angehörige der Opfer schließlich aber verhindern konnten und Berichte über Überlebende, die später spurlos verschwunden sein sollen, lassen das Rätsel um den Untergang der Estonia immer verworrener erscheinen. Ob es jemals geklärt werden kann, steht auch zehn Jahre nach der Tragödie offen.

*** Ende Infokasten ***


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