Dem Paradies wird das Wasser abgegraben
Noch steht alles bis zum Rand unter Wasser. Zumal nach zwei Tagen ununterbrochenen Regens. Hier in Vylkove. Die kleine Stadt hat knapp 10.000 Einwohner und markiert den Endpunkt menschlicher Besiedlung auf der ukrainischen Seite des Donaudeltas. Von hier hat die Donau nach 2830 Kilometern zwar noch gut 20 Kilometer bis zum Schwarzen Meer zurück zu legen, doch dieses letzte Stück gehört der Natur, der Donau. Sie hat sich diese amphibische Landschaft in den vergangenen 300 Jahren selbst geschaffen. Riesige Schilfflächen, die durchzogen werden von trägen Flussarmen und aus denen sich nur hie und da eine bewachsene Sandbank abhebt. Ein Paradies für Wasservögel, Frösche und Insekten. Das Delta ist einer von fünf ukrainischen Nationalparks und von der UNESCO wegen seiner einmaligen Artendichte und –vielfalt 1998 als Biosphären-Reservat unter Schutz gestellt worden.
Dieses Paradies ist nun in Gefahr. Die ukrainische Regierung hat sich in den Kopf gesetzt, die eigenen landeinwärts gelegenen Häfen besser erreichbar zu machen. Und dafür soll einer der Donauarme, der Bystroje-Kanal, der bisher an seiner Mündung nur drei Meter tief ist, für Schiffe mit größerem Tiefgang ausgebaggert werden. „Dadurch wird sich die Fließgeschwindigkeit in diesem Arm erhöhen und viele Teile des Deltas werden trocken fallen“, erklärt Michail Žmud die Gefahr. Der gelernte Biologe arbeitete früher als Wildhüter im Nationalpark und führt seit einigen Jahren Touristen mit seiner eigenen Firma durchs Delta. Außerdem hat er an einem der Donauarme, unweit des strikten Schutzgebiets an der Mündung, eine einfache Lodge eingerichtet. Hier gibt es nur Wasser und Schilf so weit das Auge reicht, ein paar vereinzelte Bäume. Vogelschreie sind die einzigen Geräusche in der Stille.
„Auf 7.000 Besucher jährlich ist die Zahl der Besucher im Mündungsgebiet fest gelegt,“ erzählt Žmud. Mehr Touristen würden die Vögel von ihren Brutstätten vertreiben. Wesentlich gravierender wäre der Schiffsverkehr, befürchten die Umweltschützer. Die Aushubarbeiten würden Tausende Vögel aus ihren angestammten Quartieren am Kanal bedrohen und der folgende Schiffsverkehr den Fischbestand gefärden. „Das ist eine Katastrophe für uns“, sagt Žmud, und meint damit nicht nur sich und die Handvoll anderer Tourismusunternehmer in Vylkove.
Ganz Vylkove würde unter weniger Fischen und sinkendem Wasserpegel leiden. Seit die Stadt Vylkove 1746 gegründet wurde – damals noch unmittelbar an der Mündung der Donau ins offene Meer gelegen – hat sich eine einmalige Symbiose von Mensch und Natur entwickelt. Die Altgläubigen, die auf der Flucht vor ihrer Verfolgung im Zarenreich hierher in das unzugängliche, damals noch unter türkischer Herrschaft stehende Delta gekommen waren, arbeiteten zunächst als Fischer. In mühsamer Kleinarbeit warfen sie entlang der Flussarme und Kanäle aus dem ständig angeschwemmten fruchtbaren Donauschlamm leicht erhöhte Grundstücke auf. Diese Gärten sind heute der bescheidene Lebensunterhalt für die meisten Vylkover.
Es ist ein idyllisches Bild zu sehen, wie am zentralen Kanal der Stadt auf alten Holzkähnen die frischen Früchte gebracht werden. Die ersten Erdbeeren schon Ende Mai. Dann die Kirschen, im Juli die Aprikosen, die Tomaten und die Gurken und später im Jahr Weintrauben, Pflaumen und Auberginen. Vylkove ist ein einziger Obstgarten. Am „Hafen“ wird mit Zettel, Stift und Handwaage abgerechnet. Am Ende des Tages stapeln sich die Kisten vor den klapprigen Minibussen, die die Ware in die Großstadt Odessa bringen sollen. Wirtschaft wie schon seit Jahrhunderten. Und heute umso mehr, nachdem seit dem Ende der Sowjetunion die Fischfabriken des Ortes still stehen und auch der Versuch einer intensiven Landwirtschaft auf den feuchten Böden aufgegeben wurde.
Die ukrainische Regierung will nun einen neuen Anlauf in Richtung Fortschritt unternehmen. Nur dass er in Form Hochsee tüchtiger Frachter an Vylkove vorbei dampfen wird. „Nicht einmal bei den Baggerarbeiten“, so Michail Žmud, „werden einheimische Kräfte benötigt“. Doch der Protest ist lau in Vylkove. Öffentliche Proteste und Bürgerinitiativen sind in der Ukraine unbekannt: „Die da oben machen das einfach und wir müssen sehen, wie wir zurecht kommen“, sagt Žmud leicht resignierend. Vielleicht kann internationaler Druck in letzter Minute noch etwas bewirken. Eine zunächst angefragte holländische Firma lehnte den Auftrag jedenfalls ab. Doch die deutsche Firma Moebius, die sich den Auftrag nun gesichert hat, hat ihr Arbeitsgerät schon an die Mündung verlegt.