Sängerkrieg der Seehasen
Von Jens Mühling (jens.muehling@gmx.de, Tel: +7 248 23 30 oder +7 25 25 675)
Tallinn (n-ost). Mit Volksliedern ist es so eine Sache: Es braucht schon den
Resonanzraum eines stolzgeschwellten Volkskörpers, um dem zugehörigen Lied
Klang zu verleihen. Wo dagegen ethnische Herkunft als
Identifikationskriterium ausgedient hat, werden auch die Stimmen dünn.
Deshalb feiert Deutschland zwar mit einiger Hingabe Feste wie den Karneval
der Kulturen, tut sich jedoch mit der Pflege der eigenen Folklore mitunter
recht schwer. Wer kennt schon noch deutsche Volkslieder? Das Volk hat sich
abgeschafft in diesem Land, und mit ihm ist das Lied verschwunden.
Wer das für ein allgemeingültiges Phänomen des aufgeklärten Europa hält, der
irrt. Eine Fährfahrt von Rostock entfernt liegt Tallinn, wo am vergangenen
Wochenende das traditionelle "Laulupidu" gefeiert wurde - ein gigantisches
Festival der estnischen Volkskultur. Alle fünf Jahre verwandelt sich dort
ein Land, das in jüngerer Zeit eher durch sein Beharren auf
High-Tech-Fortschritt und kompromisslose Marktwirtschaft von sich reden
machte, in eine Trachtengalerie mit flächendeckender Volksliedbeschallung.
Selbst die jüngere Generation tauscht dann Bluetooth-Handys und
Markenturnschuhe gegen die Nationalkostüme der estnischen Regionen ein. Die
Straßen füllen sich mit den Nachfahren jener estnischen Emigranten, die auf
der Flucht vor faschistischen oder sowjetischen Besatzungstruppen das Land
verlassen hatten, und deren Kinder nun zurück nach Tallinn strömen, um mit
kanadischem oder neuseeländischem Akzent estnisches Liedgut zu intonieren.
Derweil beschwören Landespräsident Arnold Rüütel und Premierminister Juhan
Parts - die sich noch vor kurzem den Mund fusselig reden mussten, um ihr
Volk von einer Souveränitätsabgabe unter dem Banner der EU zu überzeugen -
salbungsvoll den nationalen Zusammenhalt.
Rund 300 000 Besucher und 30 000 Sänger zieht das Liederfest alle fünf Jahre
nach Tallinn - ein knappes Viertel der estnischen Gesamtbevölkerung. Man
versuche nur mal, sich vorzustellen, wie 20 Millionen Deutsche in Lederhosen
den Tiergarten überrennen, um gemeinsam "Kein schöner Land" anzustimmen!
Weit kommt man damit nicht. Dabei geht das estnische Laulupidu-Fest
ursprünglich sogar auf die Tradition deutscher Gesangsvereine zurück: Der
Publizist Johann Voldemar Jannsen organisierte 1869 in Anlehnung an die
Sängerwettstreite der Deutschbalten das erste Liederfest in Tartu. Schnell
wurde das Laulupidu-Fest zur Plattform des aufblühenden estnischen
Nationalbewusstseins nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft durch Deutsche
und Russen. Ein von Jannsen verfasstes Lied namens Mu isamaa, mu õnn ja rõõm
("Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude") wurde nach der ersten
Unabhängigkeitserklärung von 1918 zur estnischen Nationalhymne, ein Stück
von Jannsens Tochter, der Nationaldichterin Lydia Koidula, stellt bis heute
eine Art inoffizielle Hymne dar, mit der das Festival traditionell
abgeschlossen wird: Mu isamaa on minu arm ("Mein Vaterland ist meine
Liebe").
Auch als Estland seine Souveränität einbüßte und zum Teil der Sowjetunion
wurde, blieb das Liederfestival bestehen, wenn auch in entstellter Form:
Zwar ließ die Sowjetverwaltung 1957 das Lauluväljak-Stadion bauen, das bis
heute als Spielort des Festivals dient. Gleichzeitig jedoch wurde die
Veranstaltung strikten Auflagen unterworfen: Ein Großteil der patriotischen
Lieder verschwand aus dem Programm, stattdessen wurden Arbeiterhymnen und
Darbietungen von pan-sowjetischen Folkloregruppen integriert. Bis 1985 wurde
das Singen des Koidula-Liedes "Mein Vaterland ist meine Liebe" mit
Zwangsarbeit in Sibirien bestraft - gesungen wurde es meist trotzdem.
Seine heutige identitätsstiftende Wirkung erlangte das Fest jedoch erst mit
der Loslösung von der Sowjetunion: 1988 versammelten sich 300 000 Esten auf
dem Laulupidu-Gelände, um für die nationale Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Dabei sangen sie die alten patriotischen Volkslieder, darunter auch die
verbotene Nationalhymne, und überall wehte die blau-schwarz-weiße estnische
Flagge. Zum zweiten mal in ihrer Geschichte, so will es die Legende,
ersangen sich die Esten den Weg in die Unabhängigkeit. Weil dabei kein
einziger Tropfen Blut floss, erhielt das Festival von 1988 den Beinamen "die
singende Revolution".
Seitdem wurde das Liederfest, wie die estnische Gesellschaft überhaupt,
gründlich von russischen Beigeschmäckern gesäubert. Russische
Muttersprachler stellen heute ein knappes Drittel der estnischen Bevölkerung
- beim Liederfest war davon wenig zu hören. Lediglich im Rahmen des parallel
stattfindenden Volkstanz-Festivals "Tantsupidu", das choreographisch im
Zeichen des Waldes stand, durfte ein verloren wirkendes russisches Ensemble
symbolisch den einsamen Baum im estnischen Wald verkörpern.
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