Regierung in Prag tritt am Mittwoch zurück
Von Gerd Lemke (gerlem@gmx.de; Tel.: 00420 721 570304)
Prag (n-ost). Während das ganze Land mit den in Portugal von Sieg zu Sieg
eilenden Fußballspielern mitfiebert, erreicht die politische Krise ihren
Höhepunkt. Der Regierungschef hat angekündigt, dass er mitsamt seinem
Kabinett am Mittwoch zurücktreten werde. Am Tag danach kämpfen Nedved,
Koller & Co. um den Einzug ins Finale der Fußball Europameisterschaft.
Überraschen kann den Kenner weder das eine noch das andere Ereignis.
Seit Wochen sagen die Medien eine schwere Regierungskrise voraus. Ähnlich
wie die deutschen Genossen kämpfen auch die tschechischen Sozialdemokraten
mit einem rasanten Schwund der Wählerpräferenz. Das letzte auslösende Moment war der Misserfolg bei den jüngsten Europawahlen. Dort landete die stärkste Regierungspartei nur an fünfter Stelle und konnte lediglich zwei Abgeordnete ins Parlament von Strassburg entsenden. Zu wenig, meinten die parteiinternen Kritiker des Regierungschefs Spidla und zogen die Reißleine.
Der zentrale Exekutivausschuss der Partei sprach seiner Regierung am Samstag das Misstrauen aus. Jetzt kann der gelernte Historiker Spidla selbst an die geschichtliche Einordnung seiner zweijährigen Regierungszeit gehen. Der bisherige Kronprinz Stanislav Gross hat den Parteivorsitz übernommen. Jetzt soll der programmatisch eher farblose, aber seit Jahren sehr beliebte Jung-Politiker (34 Jahre) auch die Regierungsgeschäfte übernehmen. Mit welchen Koalitionspartnern, ist noch nicht klar.
Denn die derzeitige Koalition aus Sozialdemokraten (CSSD), christlicher
Volkspartei (KDU-CSL) und Freiheitlichen (US) stützt sich auf eine
hauchdünne Mehrheit (101 zu 99 Stimmen). Zudem steht die Freiheitsunion nur
sieben Jahre nach ihrer Gründung vor der Selbstauflösung. Wahlforscher geben ihnen kaum noch Chancen für den Wiedereinzug ins Parlament. Gross hat
bereits verkündet, eventuell mit den Christlchen eine Minderheitsregierung
zu bilden. Das Land hat bereits Erfahrungen mit dieser Konstruktion. Die
Sozialdemokraten haben von 1998 bis 2002 unter Duldung des politischen
Gegeners, der bürgerlichen Partei (ODS), das Land alleine regiert. Der
damalige Premierminister Milos Zeman und der heutige Präsident Vaclav Klaus
hatten den berüchtigten „Oppositionsvertrag“ abgeschlossen, der den
Bürgerlichen ein Mitregieren durch die Hintertür ermöglichte.
Genau mit diesen undurchsichtigen Machenschafften wollte die Regierung
Spidla eigentlich aufräumen. Der als Saubermann bekannte Dauerläufer Spidla
scheiterte nicht zuletzt an seinem Vorgänger Zeman. Der populistische und
poltrige Zeman hatte Spidla 2001 zum Parteivorsitzenden und 2002 zum Premier gemacht. Doch das öffentliche Abrücken vom Ziehvater und die mangelnde Unterstützung für Zemans Präsidentschaftsambitionen 2003 haben das Verhältnis beider stark zerrüttet. Immer lautstärker und vehementer forderte Zeman den Rücktritt seines Zöglings von seinem Alterssitz aus. Er nannte ihn öffentlich eine Gefahr für die Partei. Am Samstag fuhr Zeman zum ersten Mal wieder in politischer Mission nach Prag. Mit ihm ist in Zukunft wieder zu rechnen.
Während die Sozialdemokraten weiterregieren wollen, wittert die Opposition
ihre Chance. Der Chef der Bürgerlichen, Mirek Topolanek, fordert
siegesgewiss baldige Neuwahlen. Die nie gewendeten Kommunisten stehen Gewehr bei Fuß, ihren Einfluss zu vergrößern. Ihnen würde jeder fünfte bis vierte Tscheche derzeit die Stimme geben. Bisher gelten sie als Schmuddelkinder der tschechischen Politik. Doch das könnte sich bald ändern. Sollten bald Neuwahlen stattfinden, dürften die beiden Oppositionsparteien als stärkste Fraktionen ins Parlament einziehen. Sowohl die Bürgerlichen als auch die Kommunisten gelten als sehr euroskeptisch. Das wird wohl auch ein Sieg der Fußballspieler bei der Europameisterschaft nicht ändern.
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Gerd Lemke