Die Tech-Frauen aus Tallinn
Ein offener Arbeitsbereich, Designermöbel, ein Tischkicker: Was man von Startups weltweit kennt, findet sich auch im Firmensitz von „Testlio“ in Tallinn. Und doch ist das auf Softwaretests spezialisierte IT-Unternehmen im internationalen Vergleich immer noch etwas Besonderes. Denn geleitet wird es von einer jungen Frau – Kristel Kruustük.
Gut gelaunt führt die 27 Jahre alte Unternehmenschefin durch die weitläufige Firmenzentrale. Ihre Firma testet Apps für Mobiltelefone, bevor die Software auf den Markt kommt. Dazu unterhält Testlio ein weltweites Netzwerk von Testern. Nach einem Studium am estnischen IT-College wagte Kruustück im Jahr 2012 den Sprung und gründete ihr eigenes Unternehmen. Anfangs bestand es aus ihr selbst und ihrem Ehemann und Co-Gründer Marco Kruustük. Mittlerweile umfasst das Team mehr als 40 Mitarbeiter und ein Büro im Silicon Valley in den USA.
Auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie Kruustük kann auch Sabine Pole zurückblicken. Mit ihrem Startup „Sorry as Service“ steht die 25-jährige Lettin für die Fehler anderer gerade: Sie hilft Unternehmen, sich bei enttäuschten Kunden zu entschuldigen. Dafür stellt Sorry as Service eine technische Lösung bereit, mit der die Firmen etwa Schokolade oder Blumen samt personalisierter Entschuldigung an ihre verärgerten Kunden versenden können – als Zeichen der Wiedergutmachung. Bereits zwei Jahre nach der Gründung in Tallinn schreibt das Startup schwarze Zahlen, hat neun Mitarbeiter und zwei weitere Standorte: in London und Riga.
Programmieren in der Grundschule
Estland bietet gute Voraussetzungen für Startups aus der Digitalwirtschaft. Wie kaum ein anderes Land in der EU hat sich der kleine Staat im Nordosten Europas dem digitalen Wandel verschrieben. Der Zugang zum Internet gilt als Grundrecht. Die Digitalisierung hat viele Lebensbereiche wie Verwaltung, Bildung, Gesundheit und Recht durchdrungen. Bereits Erstklässler lernen in der Schule das Programmieren.
Gründerinnen sind in der estnischen IT-Branche zwar noch in der Unterzahl. Doch ein Wandel hat eingesetzt: Nach Angaben der staatlichen Agentur „Startup Estonia“ haben 16 Prozent aller estnischen Startups mindestens ein weibliches Gründungsmitglied. Viele davon haben mit ihrer Idee erfolgreich Geld bei Investoren eingesammelt – sechs der zehn größten Finanzierungsrunden in Estland gingen 2016 an Firmen, die von Frauen gegründet oder mitgegründet wurden.
Im Vergleich zu westlichen EU-Staaten arbeiten Frauen in Estland häufiger in technischen Berufen. Ein Grund dafür ist historischer Art: Wie in anderen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang wurden Frauen in der einstigen Estnischen Sowjetrepublik verstärkt als Arbeitskräfte in sogenannten Männerberufen eingesetzt. Dies wirkt bis heute im Gesellschaftsgefüge und in den Familienmodellen nach.
Kein Bürotyp
„Ich finde es toll, mein eigenes Ding zu machen“, erklärt Pole von Sorry as a Service, die ihre Geschäftidee gemeinsam mit drei Co-Gründern entwickelt hat.
Trotz unzähliger Überstunden und Stress genießt Pole die Verantwortung: „Alles liegt auf deinen Schultern. Du musst deine eigenen Entscheidungen treffen, dir deine Zeit selbst einteilen, für deine Fehler geradestehen“, sagt sie. Dies sei ermutigend und aufregend.
Dass sie einmal ihre eigene Firma haben würde, wusste Pole schon lange. Der Typ für einen geregelten Bürojob sei sie nie gewesen. Sie vermutet, dass ihr das unternehmerische Denken in die Wiege gelegt wurde – von ihrem ebenfalls selbstständigen Vater. Auch Kruustük hat sich mit ihrer Firma einen Traum erfüllt.
Doch die beiden Jungunternehmerinnen hatten auch mit Widerständen zu kämpfen. Wie viele andere Gründer plagten Kruustük und Pole anfangs Selbstzweifel. „In den ersten Jahren war ich nach jeder Kleinigkeit zu Tode betrübt“, erzählt Kruustük. Auch Pole hat Ähnliches durchlebt: „Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen etwas schief läuft und man sich fragt, warum man es überhaupt macht.“ Trotz anfänglichen Rückschlägen – etwa bei der Kundengewinnung – haben die beiden ihre Selbstständigkeit jedoch nicht bereut. „Hauptsache, man glaubt daran, dass man es schafft“, erklärt Kruustük.
Progressives Umfeld
Heute sind die Beiden auf einem guten Weg. Das Wirtschaftsmagazin Forbes listet die jungen Frauen in ihren Top 10 der vielversprechendsten Gründer in den baltischen Staaten. In einem estnischen Magazin wird Kruustük sogar als „erfolgreichste weibliche Unternehmerin in Estland“ bezeichnet. Sie sei ein „inspirierendes Vorbild“ für Hunderte anderer Frauen, eine Karriere im IT-Sektor einzuschlagen.
„Der IT-Sektor eröffnet für Frauen mehr Freiräume, höhere Flexibilität und neue Möglichkeiten in der Arbeitswelt“, sagt auch Mari-Liis Lind von der estnischen Organisation „Tech Sisters“. Lind hat 2011 gemeinsam mit Gleichgesinnten das Netzwerk ins Leben gerufen. Das Ziel: Frauen in Schulungen auf Unternehmensgründungen vorzubereiten, sie in der Branche zu vernetzen. Das Umfeld sei progressiv und unterstützend, auch was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht, betont Lind.
Trotz aller Freiräume haben Unternehmerinnen in der männerdominierten Technikwelt bisweilen mit Chauvinismus und Männercliquen zu kämpfen. Auch Kruustük und Pole haben da ihre Erfahrungen gemacht: Bei einer Konferenz etwa wurde der als Rednerin geladenen Kruustük von einem Teilnehmer vorgehalten, dass sie die Anschubfinanzierung für Testlio nur bekommen habe, weil sie schön, blond und eine Frau sei. Auch Pole sei anfangs bei älteren männlichen Geschäftspartnern und Kunden auf Vorbehalte gestoßen. Doch dies habe sich bei persönlichen Treffen oft schon nach wenigen Minuten gelegt. „Wir sind ziemlich gut in dem, was wir tun“, sagt Pole selbstbewusst.
„Technologie umgibt uns heute von allen Seiten“, sagt Kruustük. Deshalb sollten auch Frauen keine Scheu haben, sich mit IT zu beschäftigen. „Übung ist alles“, so Kruustük. Was Testen und Ausprobieren angeht, ist sie schließlich ein Profi.
Kristel Viidik von Testlio und Kollegen in ihrem Büro im Kreativviertel Telliskivi, Tallinn, Estland. Die Firma testet Apps und andere digitale Produkte auf Fehler.