Die Reiche und die Schöne
Tallinn (n-ost). Die Bar des Radisson-Hotels ist nicht der schlechteste Ort, um auf eine Dame zu warten. Dunkelrote Ledersessel und Zeitungen in Hülle und Fülle – muss ja nicht gleich jeder merken, dass man wartet. Auch der junge Mann hinter dem Thresen hat eine umwerfend professionelle Art, dem Gast das Gefühl zu vermitteln, dass das schon alles seine Richtigkeit hat mit dem unbeschäftigten Rumsitzen. Wie gesagt, nicht der schlechteste Ort zum Warten, aber das Warten dauert jetzt schon ziemlich lange. Fragen wir doch mal am Thresen nach: „Entschuldigung, ich bin hier mit Carmen Kass verabredet, sie wissen schon. Liegt vielleicht eine Nachricht für mich vor?“ Ein nordisch-reserviertes Lächeln: „Leider nein.“
Also weiterwarten. Typisch Model, denkt man noch, als plötzlich ein kühler Luftzug durch die Drehtür weht und – eine Politikerin die Lobby betritt. Aber die sind ja auch fürs Zuspätkommen berüchtigt. Jetzt bloß nichts verkehrt machen, Politikerinnen wollen anders behandelt werden als Models. Carmen Kass trägt eine weiße Strickjacke und ausgewaschene Jeans, gut sieht das aus, aber darf man Politikerinnen überhaupt nach ihrer Kleidung befragen? Darf man Politikerinnen sagen, dass sie gut aussehen?
Man darf. Und wenn Carmen Kass sich für ein Kompliment bedankt, dann tut sie das so überzeugend, als sei es das erste Kompliment ihres Lebens. Dann beantwortet sie sogar die Frage nach ihrer Kleidung – bevor sie überhaupt gestellt wurde: „Entschuldigung für den legeren Auftritt, aber ich trage seit Wochen nur Kostüme und bin abends ganz froh, wenn ich was Bequemes anziehen kann.“
Es stimmt: Wenn Carmen Kass in letzter Zeit in der Öffentlichkeit auftrat, dann geschah das in der Regel im anthrazitfarbenen Zweiteiler. Den meisten Esten war sie bisher eher in extravaganten Kreationen internationaler Modeschöpfer ein Begriff – das goldene Dior-Plakat, auf dem sie zur Zeit in ganz Europa zu sehen ist, hängt scheunentorgroß neben dem Eingang des Radisson-Hotels. Denn Carmen Kass, die am 13. Juni bei den Europa-Parlamentswahlen für die Regierungspartei „Res Publica“ kandidiert, gehört zu den erfolgreichsten Models der Welt. Mit 14 – vor gerade zwei Jahren hatte sich Estland von der Sowjetunion losgesagt – wurde sie von einem italienischen Model-Agent in einem Provinz-Supermarkt entdeckt. Dem erklärte sie in gebrochenem Englisch, dass ihr Nachname das estnische Wort für „Katze“ sei. Der Italiener war hingerissen und lud das Katzenmädchen zu einem Testlauf ein. Weil Mutter Kass davon nicht so begeistert war, fälschte Carmen kurzerhand ihre Unterschrift und schlug sich alleine nach Mailand durch.
Zwei Jahre vorher hatte es in Estland weder Talent-Späher noch Supermärkte gegeben. Models hießen manekenischizy und präsentierten Sowjet-Chic aus volkseigener Produktion. Und Italien war unendlich weit weg.
Elf Jahre später ist Carmen Kass – nach eigener Auskunft – die reichste Frau Estlands. Sie hat für alle großen Namen der Branche auf dem Laufsteg gestanden und die Titelseiten sämtlicher Modejournale geziert. Mit 18 zog sie zunächst nach Paris, dann weiter nach New York und Los Angeles. Gerade das haben Kritiker ihr oft vorgehalten, seit sie ihre Kandidatur bekanntgab: Wie soll so eine denn Estland in Europa vertreten? Carmen Kass kennt die Einwände: „Natürlich gibt es Leute, die der Meinung sind, ich könne ihre Probleme nicht mehr nachvollziehen, ich sei eher Amerikanerin als Estin.“ Stimmt aber nicht, glaubt sie: „Estland ist alles, was ich bin. Ich habe die gleichen Dinge durchgemacht, die hier alle durchgemacht haben.“ Zu fünft habe ihre Familie in einer Ein-Zimmer-Wohnung gelebt, später in einem Haus ohne Dusche und WC, „aber als Kind war mir gar nicht richtig klar, dass andere Häuser Duschen haben. Es war ein glückliches, kleines Leben.“
Weil sie inzwischen ein sehr anderes glückliches Leben führt, kann sich jedoch so mancher Este nicht recht vorstellen, Carmen Kass zu wählen. Bei Durchschnittsgehältern von 400 Euro brutto und Renten von 120 Euro im Monat ist das vielleicht auch kein Wunder, zumal Carmen Kass aus ihrem Kontostand kaum einen Hehl macht. Bei jungen Esten dagegen kommt die 25-Jährige gut an, obwohl sie weder über politische Vorkenntnisse noch einen Schulabschluss verfügt. Ihr Lebensweg wird als typische Erfolgsgeschichte eines fortschrittsfreundlichen jungen Landes wahrgenommen, in dem Kneipenrechnungen und Parktickets per Mobiltelefon bezahlt werden können und jeder Bürger das gesetzlich verbriefte Recht auf einen Internetanschluss hat.
Im Wahlkampf setzt Carmen Kass dementsprechend auf jugendorientierte Themen wie Drogenprävention und das Bildungssystem. „Eine Idee, die mir sehr am Herzen liegt, ist ein Geschichtsbuch, das Europa in seiner Gesamtheit erklärt“, erzählt sie. „In französischen oder britischen Schulen erfährt man über Estland doch meist nur, dass es mal zur Sowjetunion gehörte – wenn überhaupt.“
Sechs Sitze stehen dem kleinen baltischen Land im Europa-Parlament zu, auf drei davon spekuliert man derzeit bei Res Publica. Die rechts-liberale Regierungspartei des estnischen Ministerpräsidenten Juhan Parts führt Carmen Kass zwar nur auf Platz 11 der Kandidatenliste, doch anders als in Deutschland zieht in Estland derjenige Kandidat ins Parlament ein, der der Partei die meisten Stimmen einträgt, unabhängig von der Listenplatzierung. Ausgeschlossen ist es also nicht, dass Carmen Kass der Sprung vom Laufsteg in den Abgeordnetensessel gelingt.
Wäre sie bereit, dafür ihre Model-Karriere zu opfern? „Absolut. Auch wenn ich natürlich hoffe, dass ich das Modeln nebenbei noch als eine Art Hobby betreiben kann.“ Kann sie sich vorstellen, sich demnächst mit Haushaltsplanung und Gremienbildung auseinanderzusetzen? „Ja, natürlich, auf lange Sicht kann ich mir vieles vorstellen. Sagen wir: Verteidigungspolitik. Darüber weiß ich im Moment nicht viel. Aber ich glaube, wenn man erst einmal loslegt, kann man dabei am besten herausfinden, wo man hin will.“
Ende