„Estland ist alles, was ich bin“
Carmen, bisher kannten Dich die meisten Esten eher von Modeplakaten. Die Reaktionen auf Deine Kandidatur als Europa-Parlamentarierin fielen dementsprechend überrascht aus. Wie ist diese Idee überhaupt zustande gekommen?
Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit meinen estnischen Freunden unterhalten und dabei nach und nach ein stärkeres Interesse für Politik entwickelt. Vielleicht nicht unbedingt für detaillierte Politik, sondern eher für das, was wirklich in der Welt passiert, warum diese oder jene Leute diese oder jene Entscheidungen treffen und wo sie damit hin wollen. Im vergangenen Jahr wurde ich dann gefragt, ob ich „Juventus“ beitreten will, der Jugendorganisation von „Res Publica“. Ich habe mir das eine Weile überlegt, und schließlich dachte ich: Ich habe diesem Land so viel zu verdanken, dass es auf jeden Fall einen Versuch wert ist.
War Res Publica, die rechts-liberale Regierungspartei von Ministerpräsident Juhan Parts, dabei die naheliegendste Wahl?
Ja, auf jeden Fall, weil ich mich mit ihren Inhalten identifizere, weil es eine junge Partei ist, und weil sie sich um die jungen Leute kümmern. Ich möchte jungen Esten dabei helfen, ihre Träume zu verwirklichen. Nicht nur hier, sondern auch in der Welt. Und es geht mir auch darum, herauszufinden, welche Vorstellungen die jungen Leute, für die wir diese Politik und dieses Land ja letztlich bauen, von ihrer Zukunft haben. Natürlich braucht es in einer Partei auch die alten Hasen, die strukturell denkenden Politiker. Aber das Ganze muss auf Kooperation hinauslaufen, es muss einen Blick für die Jugend geben. Darin sehe ich meine Funktion.
Interessieren sich denn junge Esten überhaupt für Politik? Wenn man junge Leute auf der Straße anspricht, bekommt man oft einen anderen Eindruck.
Das ist etwas, was ich gerne ändern würde. Ich sage natürlich nicht: Geht alle in die Politik. Aber ich sage: Steht auf, sagt Eure Meinung, steckt Euer Herz in alles, woran Ihr glaubt. Mit meiner Kandidatur möchte ich auch zeigen, dass man, wenn man etwas wirklich will, so hart wie möglich arbeiten muss, um sein Ziel zu erreichen. Und vor allem darf man keine Angst haben, zu verlieren.
Für welche Inhalte steht die Kandidatin Carmen Kass?
Auf jeden Fall werde ich mich für unser Bildungssystem einsetzen. Eine Idee, die mir am Herzen liegt, ist eine Art gesamteuropäisches Geschichtsbuch. Wenn man heute französische oder britische Geschichtsbücher aufschlägt, erfährt man über Estland meist nur, dass es mal zur Sowjetunion gehörte – wenn überhaupt. Deshalb würde ich gerne ein Buch für die europäische Jugend veröffentlichen, in dem erklärt wird, was Europa in seiner Gesamtheit bedeutet. Außerdem organisiere ich hier in Tallinn zur Zeit eine Konferenz über Drogenprävention, und das würde ich auch gerne mit meiner Arbeit für Europa verbinden. Ich stelle mir eine Art Netzwerk vor, das es Forschern ermöglicht, Informationen zur Drogenprävention auszutauschen und gemeinsam nach der besten Lösung für ganz Europa zu suchen.
Du konzentrierst Dich also weitgehend auf jugendorientierte Themen?
Zunächst schon. Später wird es sicher auch andere interessante Bereiche geben, sagen wir, Verteidigungspolitik. Darüber weiß ich im Moment nicht viel, aber ich glaube, wenn man sich erst mal mit einem Thema auseinandersetzt, kann man dabei am besten herausfinden, wo man hin will.
Es geht Dir also nicht um einen Kurzausflug in die Politik, sondern um eine längerfristige politische Karriere?
Ich halte das auf jeden Fall für eine ernstzunehmende Option und tue zur Zeit alles, um diese Möglichkeit zu verwirklichen.
Wie Du eben selbst gesagt hast, ist Estland für die meisten Westeuropäer ein kleines Land irgendwo im Baltikum, unter dem man sich nicht allzu viel vorstellen kann. Was zeichnet Deine Heimat aus?
Zunächst natürlich die Sprache, dann die historische und kulturelle Basis. Wir sind sehr sture Menschen, und sehr stark. Es braucht Zeit, um an uns heranzukommen, aber wenn man das erst einmal geschafft hat, ist man immer willkommen. Und dann ist unser Blut sehr durchmischt, weil unsere Wurzeln so weit verzweigt sind. Ich schätze, das ist auch der Grund, warum es so schöne Menschen in Estland gibt.
In den estnischen Kinos läuft zur Zeit der Film „Heute nacht schlafen wir nicht“, in dem Du eine der Hauptrollen spielst. War das Dein erstes Kino-Projekt?
Nein, ich habe davor schon in zwei kleineren amerikanischen Produktionen mitgespielt. Aber in „Heute nacht schlafen wir nicht“ spiele ich meine erste Hauptrolle. Das Filmteam hatte von meinem Schauspielstudium in New York und Los Angeles gehört, deshalb fragten sie mich, ob ich mitspielen würde, weil das natürlich einen riesigen Publicity-Schub für ihren Film bedeutete. Es gab allerdings bei dem Film für alle Beteiligten ein Einheitshonorar, deshalb hatten die Leute natürlich Angst, dass ich ablehnen würde, weil ich andere Gehälter gewöhnt bin. Aber für mich ging es bei diesem Projekt eher darum, Erfahrungen zu sammeln.
Du spielst in dem Film eine Frau, die ihr Leben und ihre Essgewohnheiten von Männern diktieren lässt, eine Art Opferrolle. Wenn man Dich im wirklichen Leben sieht, wirkst Du nicht gerade wie der Opfertyp.
Das war einer der interessanten Aspekte des Films, weil ich die Welt und das Leben nie so gesehen habe wie dieses Mädchen. Es war alles sehr fremd für mich, es war hart. Aber es hat mir auch dabei geholfen, diese Art von Mensch besser zu verstehen. Ich glaube, dass die Politik, das Modeling und all die anderen verschiedenen Lebenswege, die ich bisher gegangen bin, mich sehr bereichert haben, und diese Art von Erfahrung braucht man als Schauspielerin.
Als Model warst Du in den letzten Jahren mehr in Westeuropa und den USA aktiv als in Estland. Schränkt das nicht Deine Glaubwürdigkeit als Kandidatin einer estnischen Partei ein?
Na ja, viele Leute hier empfinden mich als eine Art Fremde, sie denken: Die versteht uns nicht, die hat alles vergessen, was weiß die schon über unser Leben. Aber das ist falsch. Ich bin hier aufgewachsen, ich habe genau die gleichen Dinge durchgemacht wie die meisten anderen Leute. Auch meine Freunde ziehen mich oft auf und sagen: Du bist ja eine Amerikanerin. Aber das bin ich überhaupt nicht, ich bin Estin, ich bin Europäerin. Ich will den Leuten aber auch gar nicht vorwerfen, dass sie skeptisch sind. Es ist jetzt eben mein Job, Kontakt aufzunehmen, damit die Leute verstehen, wer ich bin und warum ich diese Dinge tue. Denn ich tue sie ja nicht in erster Linie für mich, sondern um zu helfen, als Dank für ein Land, das sehr hilfreich für mich war. Estland ist alles, was ich bin. Wie schon gesagt, die Esten sind reserviert, das wird eine Menge Zeit brauchen. Aber schon jetzt bekomme ich viel positives Feedback. Die Leute kommen bei den Wahlkampfveranstaltungen auf mich zu und sagen: Ich dachte immer, Du hättest keine Ahnung von Estland, aber jetzt, wo ich Dich persönlich kennengelernt habe, werde ich auf jeden Fall für dich stimmen.
Du sagst, Du hast das durchgemacht, was alle durchgemacht haben. Wie verlief denn Deine Kindheit hier in Estland?
Das war die wichtigste Phase meines Lebens. Ich habe mich seitdem natürlich enorm weiterentwickelt, aber es gibt Prinzipien aus dieser Zeit, die ich immer noch mit mir herumtrage. Geboren wurde ich in Tartu, im Süden Estlands, später sind wir dann in die Provinzstadt Paide umgezogen, wo wir zu fünft in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebten. Meine Mutter hat sehr hart gearbeitet, so dass wir uns irgendwann ein Haus kaufen konnten, in Mäo, mitten im Nirgendwo. Es gab dort keine Dusche, keine Sauna, nicht einmal ein WC, sondern nur ein Plumpsklo. Aber darüber denkt man natürlich als Kind nicht nach, mir war damals gar nicht richtig klar, dass es in anderen Häusern Duschen gibt. Es war ein glückliches, kleines Leben.
Inzwischen bist Du die reichste Frau Estlands und lebst ein sehr anderes glückliches Leben. Wärst Du bereit, nach Brüssel zu ziehen und Dein Leben als Model an den Nagel zu hängen?
Klar. Als Politikerin sehe ich mich zwar nicht mehr als Vollzeit-Model arbeiten, aber ich hoffe, dass ich es immer noch als eine Art Hobby tun kann. Und wahrscheinlich würde ich eher in Paris leben und pendeln, aber ich bin absolut bereit, mehr Zeit in Brüssel zu verbringen. Ich liebe Europa!
(Jens Mühling, Tallinn, Mai 2004)