Ukraine

Czernowitz - Eine Bürgerstadt par Excellence

Die Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Bukowina erlebte Ende des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung, der in der idyllischen Kleinstadt bis heute sichtbar ist. Vor allem die jüdische, häufig deutschsprachige Minderheit verhalf Czernowitz zu dem, was noch heute den Mythos der Stadt ausmacht: eine multikulturelle Oase der Tolenranz und der Prosperität zu sein. Insgesamt lebten um 1900 rund 21.000 Juden in Czernowitz - einer von ihnen, Dr. Eduard Reiss, wurde der erste jüdische Bürgermeister von Czernowitz.

Kaum jemand kennt ihn heute noch im ukrainischen Tscherniwzi: Dr. Eduard Reiss. Der 92jährige Czernowitzer Schriftsteller Josef Burg beschreibt den ehemaligen Bürgermeister der Stadt so: "Eduard Reiss war ein Deutscher, ein
Österreicher, ein Jude." Damit ist in der Tat vieles über ihn gesagt. Reiss schöpfte - wie viele Bukowiner Juden - seine Identifikation aus mehreren biographischen Quellen.

Dass Reiss erst 1905 zum ersten jüdischen Bürgermeister gewählt wurde, hat seinen Grund: Ende des 19. Jahrhunderts bekamen Juden die vollen Bürgerrechte in der österreichisch-ungarischen Bukowina. Eine neue Verfassung erlaubte ihnen ab 1864 Grundbesitz, eine Laufbahn im Staatsdienst, eigene Schulen und auch die Teilnahme an Wahlen. Die Gleichstellung mit anderen Nationalitäten war das Ergebnis eines langandauernden Kampfes gegen den Assimilationszwang und Ausgrenzung nach der österreichischen Besetzung 1774. Heute erinnert in der Stadt beinahe nichts an verdiente jüdische Politiker jener Zeit, die einst in aller Munde waren, etwa den langjährigen Präsidenten der jüdischen Kultusgemeinde sowie Landtags- und Reichstagsabgeordneten Dr. Benno Straucher oder eben an Eduard Reiss. Doch es finden sich noch Spuren seines Lebens und Wirkens.

Zum Beispiel sein Wohnhaus in der heutigen Wulica Ukrainska. 1856 zog die Familie Reiss von Galizien nach Czernowitz, wo es nach der administrativen Trennung Galiziens von der Bukowina im Jahre 1849 wegen der günstigen
Bedingungen viele jüdische Einwanderer hinzog. Reiss besuchte in diesem Jahr bereits das Gymnasium. Wie der Czernowitzer Literaturdozent Peter Rychlo meint, ist nicht auszuschließen, dass Reiss mit einem weiteren jüdischen Ärztesohn gut bekannt war: mit dem später als Autor weltberühmten Karl Emil Franzos. Reiss studierte Jura in Wien. 1872 ging er als junger Rechtsanwalt zurück nach Czernowitz. Drei Jahre später glänzte er anlässlich der Eröffnungsfeier der Czernowitzer Universität als Festredner: "Vivat Academia! Mit freudigem Stolze und Begeisterung soll heute jeder Bukowinaer es in die Welt hinausrufen: Vivat Academia!".

Als einer der ersten jüdischen Juristen überhaupt konnte er promovieren. Seit 1880 arbeite Reiss als selbstständiger Rechtsanwalt. Zu seinen Klienten zählten Großunternehmen und Banken der Stadt. Schon im Alter von 34 Jahren
begann seine politische Karriere. Das war für einen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit, zu der Zeit etwa in Russland oder Rumänien unvorstellbar. Und schließlich fanden überhaupt erst 1864 die ersten freien Gemeinderatswahlen statt. Zunächst wurde Reiss zum Stadtabgeordneten gewählt (von insgesamt 50 Abgeordneten waren 20 Juden). Anschließend war er elf Jahre lang Vize-Bürgermeister unter dem langjährigen polnisch-stämmigen Oberbürgermeister Baron von Kochanowski. Schon während dessen Amtszeit erlebte die Stadt deutliche Verbesserungen der Infrastruktur, etwa durch die Einführung der Straßenbahn und der elektrischen Beleuchtung sowie durch den Bau der Kanalisation und von Wasserleitungen.

Im April 1905 gewann Eduard Reiss mit 48 von 50 Stimmen - und damit auch den deutschen (was wegen der nationalen Gesinnung der deutschen Abgeordneten auch damals besondere Beachtung fand) - die Wahlen zum Bürgermeister. Mitten im Zentrum von Czernowitz finden sich mühelos architektonische Zeugnisse seiner Amtszeit, die noch heute beeindrucken und davon berichten, dass Czernowitz - einst "Klein Wien am Pruth" genannt - eine Bürgerstadt par exellence war und sein wollte: eine "moderne Insel in einem Meer von Rückständigkeit", wie es die Historikerin Marianna Hausleitner treffend beschreibt. Reiss unterstützte den Neubau des imposanten Stadttheaters, das er nach Fertigstellung selber regelmäßig besuchte. Er sorgte dafür, dass Friedrich Schiller den Theaterplatz schmückte. Weiterhin trieb Reiss den Bau des neuen Justizpalais und eines modernen Bahnhofsgebäudes voran. Der frühe Tod von Reiss beendete am 27. April 1907 unerwartet seine Amtszeit als Bürgermeister. Fotografien von seiner Beerdigung erzählen von der großen Anteilnahme der Stadtbevölkerung. Sein Grab, eine kunstvolle Kapelle aus Metall, ist heute stark verrostet, die Aufschrift in deutschen Jugendstillettern "Dr. Eduard Reiss - Bürgermeister" nur mit Mühe zu lesen.

Die Czernowitzer Blütephase fand 1918 mit der rumänischen Besetzung ein Ende. Tausende Juden fielen während des Zweiten Weltkrieges dem deutschen Vernichtungswahn zum Opfer. Der ausgezeichnete Czernowitz-Kenner Othmar Andreé schreibt in einem Aufsatz über "Czernowitz gestern und heute": Es scheint, "die Bürger von einst sind momentan nicht anwesend. Diese Menschen fehlen wie unentschuldigt. Diese Menschen gehören hierher." Wenn - wie Andreé meint - Czernowitz ein "Paradigma für das friedliche, zivilisierte und weitgehend nach rechtsstaatlichen Überzeugungen organisierte Zusammenleben verschiedener Völker mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen Glaubensbekenntnissen" war, dann muss man fragen, welche politischen Strukturen, aber auch, welche Persönlichkeiten dieses Paradigma getragen und verkörpert haben. Dr. Eduard Reiss war ganz sicher eine von ihnen.


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