Ukraine

Endlich erinnern

Für viele Kiewer ist Babyn Jar einfach nur ein Park. Im Sommer gehen hier verliebte Pärchen spazieren, im Winter fahren Kinder auf den niedrigen Hügeln Schlitten. Auf dem Gelände des Parks steht ein 385-Meter-hoher Fernsehturm, eröffnet 1973, in der Nähe gibt es eine U-Bahn-Station.

Noch bis vor Kurzem haben nur einzelne im Park verstreute Mahnmale daran erinnert, das hier vor 75 Jahren die größte Massenerschießung im Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Am 29. und 30. September 1941 ermordeten SS und Wehrmacht in der Schlucht von Babyn Jar 33.771 Juden. Offensichtlich war auch die ukrainische Hilfspolizei daran beteiligt. Bis zum Ende der deutschen Besatzung 1943 wurden hier geschätzt 70.000 bis 100.000 Menschen – darunter Juden, Roma, Kommunisten, Kriegsgefangene, orthodoxe Priester und ukrainische Nationalisten – erschossen.

Zum 75. Jahrestag der Tragödie soll Babyn Jar nun zu einem großen Gedenkstättenkomplex ausgebaut werden. Eine Million Euro haben der ukrainische Staat und die Kiewer Stadtverwaltung für die Restaurationsarbeiten sowie für die Entwicklung neuer Mahnmale, Gedenktafeln und Alleen bereitgestellt. „Unser Ziel ist es, diesen Park zum Ort des Gedenkens zu machen, den die Menschen bewusster nutzen,“ sagt Jewhen Hordilow, stellvertretender Direktor des für die Bauarbeiten in Babyn Jar beauftragten Unternehmens „Zhytloinwestbud“.

Warum aber erst jetzt, nach 75 Jahren? Die Kultur des Schweigens über Babyn Jar hat ihre Wurzeln in der Sowjetunion. Laut der sowjetischen Ideologie war das einzige Opfer des Krieges „das sowjetische Volk“, das Gedenken an andere Opfergruppen war nicht zulässig. 1961 ereignete sich in Babyn Jar eine neue Katastrophe. Nach einem Dammbruch kam es zu einer Überschwemmung. Im Wasser trieben die Überreste der Opfer aus den 1940er Jahren. Bis zu 2.000 Menschen kamen durch die Schlammlawine ums Leben. Als hätte die Natur Rache für das Vergessen geübt. Auch diese Tragödie wurde verschwiegen.


Maidan-Revolution gab den Impuls

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ist der Aufarbeitungsprozess langsam in Gang gekommen. Doch den entscheidenden Impuls gab anscheinend erst die Maidan-Revolution im Jahr 2013 und 2014. Dabei haben sich die Ukrainer als eine politische Nation begriffen und seitdem begonnen, sich ihrer Geschichte auf vielen Ebenen konsequenter zuzuwenden. Das merkt man beim Thema Holocaust.

„Noch nie hatten wir so viele Gedenkveranstaltungen zu einem Babyn-Jar-Jahrestag wie in diesem Jahr“, sagt Josef Zissels, Vorsitzender des jüdischen Dachverbandes in der Ukraine. Allein in Kiew finden im September mehr als 40 Projekte statt: Ausstellungen, Buchpublikationen, Tagungen, Konzerte. Bei der großen Gedenkzeremonie am 29. September werden auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck und der Staatspräsident Israels Reuven Rivlin teilnehmen.

Bei der Vergangenheitsbewältigung ist die ukrainische Zivilgesellschaft meistens allerdings aktiver als der Staat. Während die Machthaber auf die sogenannte „Entkommunisierung“ setzen und etwa sowjetische Denkmäler abbauen, sind es oft kleine Initiativen, die aufklärerische Arbeit zu Geschichtsthemen leisten. In vielen Fällen werden sie von ausländischen Stiftungen finanziert.


Gleichzeitigkeit der Katastrophen

Zissels bleibt optimistisch: „Das ist ein evolutionärer Prozess. Die Ukraine hat in den letzten 25 Jahren einen großen Schritt nach vorne gemacht.“ An die jüdische Geschichte wird nicht mehr nur an den Jahrestagen erinnert – und nicht nur in der Hauptstadt. In vielen Städten von Charkiw bis Tscherniwzi entstehen neue Initiativen. Im westukrainischen Lwiw hat man am 4. September eine neue Gedenkstätte auf den Ruinen der alten Goldene-Rosen-Synagoge eröffnet, die 1941 von den Nazis vernichtet worden war.

„Was uns noch sehr fehlt,“ sagt Zissels, „ist das Verständnis, dass der Holocaust keine rein jüdische, sondern eine europäische Tragödie war.“ In diesem Sinne seien viele EU-Länder viel weiter als die Ukraine. „Aber wir müssen auch die Gleichzeitigkeit der Katastrophen im ukrainischen Kontext bedenken,“ glaubt Zissels. Gemeint ist die von Stalin organisierte Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933, bei der Millionen von Ukrainern umkamen, sowie die Deportation der Krimtataren 1944.

Auch das sind Themen, mit denen sich die Ukrainer in den letzten Jahren intensiver auseinander gesetzt haben. Dazu hat auch der aktuelle Krieg mit Russland in der Ostukraine beigetragen. Reibungslos funktioniert die Aufarbeitung nicht, aber sie läuft viel schneller als in den ersten zwei Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit der Ukraine.


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