Auswärtsspiel für Europa
Lublin (n-ost). „Amerika, Ameerikaa!” röhrt Beata Kozidrak, Sängerin der
populären polnischen Rockgruppe „Bajm“ ins Mikrofon. „Amerika, Ameerikaa!”
schallt es vieltausendfach aus dem Publikum zurück, das die Lieder der Band
seit Jahren auswendig kennt. Während „Bajm“, die hier vor über 25 Jahren
ihre Karriere starteten, ein Heimspiel feiern, tritt Europa zum
Auswärtsspiel an.
Kaum etwas erinnert an diesem Abend auf Lublins ehrwürdigem Schlossplatz,
der sich malerisch zwischen Schlossberg und Altstadt zwängt, an das
historische Ereignis, das gefeiert werden soll: Polens Beitritt zur EU.
Die 20.000 vorwiegend jungen Menschen auf dem Schlossplatz genießen die
Rockmusik, billiges Bier und Popcorn. Die Sponsoren des Abends – Polnische
Post und Supermarktketten – rahmen die Bühne mit ihren Werbebannern und
Ballons ein, im Publikum werden vereinzelt polnische Fahnen geschwenkt. Das
charakteristische blau-gelb der EU scheint auf geheimnisvolle Art aus dem
Geschehen verbannt zu sein. Verschämt haben die Organisatoren ein Banner in
neutralem Schwarz auf Weiß über die Bühne gehängt. „Von der Lubliner Union
zur Europäischen Union” steht darauf.
Die Lubliner Union besiegelte 1569 den Zusammenschluss Polens und Litauens
zum größten Reich des damaligen Europas. Dieser Rückgriff auf die glanzvolle Geschichte der Stadt, als sie eines der wichtigsten Handelszentren Ostmitteleuropas war, soll den Bürgern die EU schmackhaft machen. Doch die Europäische Union wird von vielen eher als Bedrohung, denn als Chance empfunden. Nahe liegende Ängste wie „Es wird alles teurer!” hört man von allen Seiten. Noch immer ist Lublin die größte Stadt Ostpolens und eine bedeutende Universitätsstadt. Doch Lublin ist auch Zentrum einer von Arbeitslosigkeit und Abwanderung geplagten Region. Die Gegner der EU haben hier die höchsten Zustimmungsraten in Polen. „All diese Feiern haben etwas Theatralisches. Sie schüren in der gegenwärtigen Situation eher die Vorbehalte als den Enthusiasmus”, sagt Wlodzimierz Staniewski. Der 54-jährige Theaterregisseur ist einer der wenigen Intellektuellen, die ihrer Heimatstadt treu geblieben sind. Mit seinem heute in ganz Europa bekannten, 1978 gegründeten Theater in dem unweit von Lublin gelegenen Dorf Gardzieniece hat er stets den Kontakt zur „einfachen” Bevölkerung gesucht.
„Es ist ein ungünstiger Zeitpunkt zum Feiern”, erklärt er, „die Wirtschaft
liegt am Boden, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch.” Doch sie
müssten weiter schreiten: „Wenn wir jetzt innehalten, holen uns die Dämonen
der Vergangenheit ein – Nationalismus, religiöser Fundamentalismus,
Intoleranz. Die Menschen müssen verstehen, dass die EU in jedem Fall des
geringere Übel ist.” Bei dieser Argumentation, die auch von den Medien vorgegeben wurde, bleibt wenig Raum für Enthusiasmus.
Auch die Bergarbeiter im Kohlebergwerk “Bogdanka“, 30 Kilometer entfernt vor Lublin, sehen den EU-Beitritt pragmatisch. „Vielleicht bringt uns die EU in Zukunft ein besseres Leben. Jetzt wird es nichts ändern”, gibt Alfred, der seit zwölf Jahren in der Mine arbeitet, die stereotype Meinung der Kumpel wider. Die Arbeiter sind froh, dass ihr Betrieb rentabel arbeitet und sie ihren Job bis jetzt behalten haben. „Für
mich ist der 1. Mai ein normaler Tag. Schön, dass ich da nicht arbeiten
muss”, sagt er.
So hat er wohl wie die meisten am Fernsehbildschirm die große Beitrittsfeier in der Hauptstadt Warschau verfolgt, während die unzähligen Bierdosen auf dem Lubliner Schlossplatz für die Altblechsammler noch ein einträgliches Zusatzgeschäft bieten. Und die 20.000 in Lublin haben sich nach dem obligatorischen Feuerwerk brav nach Hause getrollt. Am 1. Mai, dem ersten Tag der EU-Mitgliedschaft, gehen die Dinge wieder ihren ganz normalen Lauf. Oder ist am Ende gar nichts Besonderes gewesen?
Ende