Gemischtes Doppel #1: Kriegsangst in der Ukraine
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
alles neu macht der August. Viele von Ihnen haben bis jetzt „Russland letzte Woche” gelesen und sich an Pavel Lokshins frischem Blick auf Russland erfreut. Weil dieser beruflich nun andere Wege geht, erweitern wir das Projekt.
Ab heute heißen wir Gemischtes Doppel. Das bedeutet: Im wöchentlichen Wechsel berichten unsere Autoren mit frischem Blick, was die russische beziehungsweise die ukrainische Gesellschaft bewegt. Ihre persönlichen Einblicke in die Ukraine geben Inga Pylypchuk und Ian Bateson, aus Russland werden Maxim Kireev und Simon Schütt berichten.
Den Aufschlag aus der Ukraine macht in dieser Woche Inga Pylypchuk.
Eigentlich wollte ich diese allererste Kolumne des „Gemischten Doppels“ über kleine Fische schreiben. Über die bunten und lustigen Fische, die die ukrainische Künstlerin Switlana Rudikowa im Rahmen eines wohltätigen Projekts an die Wände eines Kinderkrankenhauses in Kiew gemalt hat. Ganz nette Fische eigentlich.
Rudikowa hat ihnen Namen gegeben: Praskowja, Matilda, Fischlein Zinochka... Aber – Achtung! – diese Namen hat sie an die Krankenhauswände auf Russisch geschrieben, statt in der Amtssprache Ukrainisch. Bis zum Gesundheitsministerium reichte der Skandal, nachdem eine „patriotisch gesinnte“ Schriftstellerin die Sprachsünde entdeckt und das Ganze auf Facebook verbreitet hatte. Ein gutes Thema, dachte ich. Ein relativ leichtes. Aber auch eins, über das man sowohl lachen als auch bis zum Morgengrauen streiten kann.
Doch dann tauchten in den Nachrichten wieder große Fische auf. Zuerst der FSB, dann Wladimir Putin selbst. Und so war ich gezwungen, mich doch in große Gewässer zu begeben, direkt in das Schwarze Meer, bei der Krim. Der Name der ukrainischen Halbinsel, die Russland 2014 völkerrechtswidrig annektiert hatte, schlich sich wieder in die Schlagzeilen ein, sogar in die deutschen!
Plötzlich war von „ukrainischen Diversanten“ auf der Krim die Rede, die Anschläge geplant haben sollen. Putin deutete an: So etwas werden wir, große Fische, nicht einfach so stehen lassen. Als Reaktion brach in der Ukraine die Angst vor einem „totalen Krieg“ aus. Die EU äußerte sich „besorgt“. Der große Fisch erklärte sich wie schon so oft zu Neptun.
Selbst der Name der Halbinsel – die Krim – ruft heutzutage bei den meisten Ukrainern unangenehme Gefühle hervor. Klar, die Krim ist ein Trauma. Die Krim-Krise 2 wirft nun viele in das Jahr 2014 zurück, als man nicht wusste, was als Nächstes kommt. Als sich noch keine Schutzmechanismen aufgebaut hatten und die Politik alle betraf. Auch damals befürchtete man einen „totalen Krieg“, weil man ja noch nicht wusste, dass es auch einen hybriden (versteckten, vertuschten, verlogenen) Krieg geben kann.
Das hat man inzwischen gut gelernt. Deswegen kursieren nun neben Parallelen zu Gleiwitz und den Phobien, dass bald die „Luftwaffe zum Einsatz kommen wird“ und „die russischen Panzer bis Kiew vorrücken“ im ukrainischen Netz auch andere Theorien.
Der Analytiker Witalij Portnikow schreibt auf dem Portal lb.ua, dass Putins Ziel nur darin liegen könne, die Ukraine weiter zu destabilisieren. „Aus der Logik der Sonderoperationen wird er nicht zur Logik des Krieges übergehen. Weil er die Logik der Sonderoperationen besser versteht und weil er sich es nicht leisten kann, einen Krieg zu führen.“
Viele Kommentatoren vermuten auch, dass Putin sich durch die „Krim-Eskalation“ eine bessere Grundlage für die Verhandlungen mit dem Westen schaffen will. In einer Kolumne auf „Ukrajinska Prawda“ schreibt Oleksandr Snidalow, dass ein offener Angriff auf die Ukraine dem Kreml nur schaden würde. Stattdessen wird er weiterhin versuchen, die Ukraine durch solche Provokationen von Reformen abzuhalten. Und alles dafür tun, dass die Bundestagswahl 2017 in Deutschland eine neue Regierung hervorbringt, die mit Russland wieder kooperieren wird – als wäre nichts gewesen.
Einen interessanten Gedanken äußerte auch der Politik-Experte Anton Shekhovtsov auf Facebook. Das Ziel der Eskalation könnte sein, den Westen dazu zu bringen, auf diesen Vorfall so zu reagieren, „als würde es sich bei der Krim um einen Teil Russlands handeln und als wären die ukrainischen Bürger auf der Krim in Wahrheit russische Bürger.“ Ich formuliere es mal anders: Man hat eine „ukrainische Diversion“ gebraucht, um das „Russisch-Sein“ der Krim hervorzuheben und die Krim-Annexion nachträglich zu legitimieren. Eine ganz schön dreiste Umkehrung der Tatsachen. Als hätte die Ukraine Russland angegriffen. Und nicht umgekehrt.
Hier wären wir übrigens wieder bei den kleinen und großen Fischen, die seltsamerweise miteinander verwandt sind. Vor der Krim-Annexion wäre eine Sprachdebatte wie die um das Kiewer Krankenhaus einfach nicht möglich gewesen. Zumindest in dieser Form. Das hätte lächerlich gewirkt. Nachdem Wladimir Putin aber seine Soldaten und Freiwilligen in die Ukraine geschickt hat, um die „russischsprachige Bevölkerung zu verteidigen“, muss man schon darüber nachdenken, wann und warum man welche Sprache spricht oder schreibt. Das ist, sage ich Ihnen ehrlich, alles andere als entspannt. Aber so sieht sie aus, die ukrainische Realität.
Das Gemischte Doppel gibt persönliche (Ein)-Blicke auf die Ukraine und Russland, geschrieben von Inga Pylypchuk und Ian Bateson (Ukraine) sowie Maxim Kireev und Simon Schütt (Russland). Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs „Stereoscope“ von n-ost. Für Abonnenten immer montags als Newsletter und auf ostpol.
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