Das russische Erbe
Riga (n-ost). Den Weg zum „Nautilus“ kann Dascha in drei Sprachen erklären: am besten auf russisch, am liebsten auf englisch, am umständlichsten auf lettisch. Vorbei an der Rigaer Freiheitsstatue, links in die Kalku-Straße, und dann hinein in ein unterirdisches Labyrinth aus Bars und Tanzflächen, wo House-Rythmen die Nacht in Stücke hacken und junge Meschen teure Cocktails schlürfen. Wenn hier ein repräsentativer Schnitt der lettischen Bevölkerung tanzt, dann müsste ein knappes Drittel der Gäste russisch sprechen. Schwer, das an irgendwelchen Äußerlichkeiten festzumachen: Ob Letten oder Russen, längst kennt Rigas Jugend den Dresscode des internationalen Nachtlebens. „Klar kann man das erkennen“, widerspricht Dascha. „Der Typ da hinten an der Bar ist Lette. Und seine Freundin auch, solche Röcke tragen nur Lettinnen.“ Der Rock ist eng, kurz und rosa. In Deutschland würde er als auffällig durchgehen, hier unterscheidet ihn nichts von den Röcken, deren Trägerinnen Dascha als typische Russinnen bezeichnet. Es braucht wohl den Kennerblick eines Rigaer Szenemädchens, um aus einem Fetzen Lurex ethnische Differenzierungen herzuleiten.
Knapp 30 Prozent der lettischen Bevölkerung sind Russen, in Riga sind es sogar die Hälfte. Der ethnische Mix ist ein Erbe der Sowjetära: In der Nachkriegszeit waren zahllose russische Familien im Baltikum angesiedelt worden, und weil viele Letten die sowjetische Okkupation als Ungerechtigkeit empfanden, rückten die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung nach der Unabhängigkeitserklärung in den Hintergrund. Die Staatsbürgerschaft erhielten zunächst nur Letten. Zwar wurde das Einbürgerungsverfahren später auf Druck der EU modifiziert, trotzdem leben heute in Lettland knapp 500 000 so genannte Nicht-Bürger – mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Da die Russen mit dem Zerfall der UdSSR auch den Sowjetpass einbüßten, sind sie faktisch staatenlos. Zentrale Bürgerrechte wie die Wahlbeteiligung bleiben ihnen versagt, auch beim EU-Referendum konnten sie nicht abstimmen. Und in Städten wie dem südöstlichen Daugavpils, wo der Russenanteil bei über 80 Prozent liegt, entscheidet bei Lokalwahlen eine kleine Minderheit.
Trotzdem kommt der Prozess der Einbürgerung nur schleppend in Gang, gerade 70 000 haben bislang einen Antrag gestellt. Manche schrecken vor dem lettischen Sprachtest zurück, andere wollen die erhöhten Visakosten für Reisen nach Russland vermeiden, oder den lettischen Militärdienst. Die meisten aber empfinden schon allein die Notwendigkeit eines Antrags als Zumutung, so wie Arkadij Sirinjew, der in Riga einen Exportbetrieb leitet: „Ich bin in diesem Land geboren, mein Sohn spricht besser lettisch als russisch. Ich sehe absolut nicht ein, warum ich die Behörden um meine Einbürgerung anbetteln sollte.“
Wer durch Rigas Straßen läuft, hat dennoch nicht den Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft. Restaurants und Cafés werden von Russen und Letten gleichermaßen besucht, auch die Wohnviertel sind durchmischt. Die allermeisten können sich sprachlich verständigen, und seit der Unabhängigkeit wurde nicht ein einziger Fall von ethnisch motivierter Gewalt verzeichnet. Jede fünfte Ehe in Lettland ist binational, weshalb die Zahl der Staatenlosen trotz der niedrigen Einbürgerungsquote gesunken ist: Ehepartner erhalten automatisch den lettischen Pass. Vor ein paar Jahren kursierte deshalb der Witz, mit den lettischen Bürgerrechten verhalte es sich ähnlich wie mit Aids: Beides wird hauptsächlich durch Sexualkontakte übertragen.
„Riga ist nicht Belfast“, glaubt Ojars Kalnins. „Für die Menschen hier spielt es im Alltag keine große Rolle, wer Russe ist und wer Lette.“ Der Leiter der Informationsbehörde „The Latvian Institute“ ist Kalnins damit betraut, Regierungspositionen mundgerecht zu machen. Damit hatte er in letzter Zeit eine Menge zu tun: Im Februar verfügte die lettische Regierung, dass der Unterricht an allen Schulen des Landes künftig zu 60 Prozent auf lettisch erteilt werden soll, woraufhin in Riga Protestkundgebungen stattfanden, an denen einige tausend russische Schüler teilnahmen. Kalnins sieht die Bildungsreform als wichtigen Schritt zur Integration der Minderheit: „Das Ziel besteht vor allem darin, Russen zur Annahme der Staatsbürgerschaft und zu mehr politischem Engagement zu bewegen. Und für beides braucht man lettische Sprachkenntnisse.“ Wer in diesem Fall auf Minderheitenrechte poche, mache es sich zu leicht.
Gleichwohl wurde die lettische Regierung wegen des schleppenden Einbürgerungsverfahrens von europäischer Seite wiederholt kritisiert – unter keinen Umständen will sich Europa mit der Osterweiterung einen neuen ethnischen Krisenherd aufladen. Das Verhältnis der Minderheit zur EU ist genau so gespalten wie das zu Russland. Menschen wie Dascha befürworten den Beitritt, weil sie jung sind und die Welt groß, und weil sie Europa eher als Teil dieser Welt empfinden als Russland. Andere erhoffen sich von Brüssel ein beherzteres Eintreten für die Interessen der Minderheit. Menschen wie Arkadij Sirinjew dagegen befürchten eine Erschwerung des Handels mit Russland, der besonders in den grenznahen Gebieten die Existenzgrundlage vieler Russen darstellt.
Dascha will es jetzt genau wissen, sie spricht die Rockträgerin auf lettisch an. Lachend kommt sie von der Bar zurück: doch eine Russin.
Ende