Eine Maschinenpistole für jeden Armenier
Die Machthaber in Armenien haben es bislang nicht geschafft, aus jener Bürgerwehr, die seit Tagen eine Polizeistation in Jerewan besetzt hält, Terroristen zu machen.
Seit dem 17. Juli besetzt die sogenannte Bürgerwehr die Polizeizentrale in der Hauptstadt Jerewan. Die radikalen Regierungsgegner hatten das Eingangstor der Station mit einem Lastwagen durchbrochen und mehrere Polizisten als Geiseln genommen. Inzwischen haben sie alle Geiseln wieder freigelassen – doch sie halten das Gebäude weiter besetzt.
Erst vor ein paar Tagen versammelten sich wieder Tausende am Rande des von der Polizei abgesperrten Bereichs um die Polizeistation. Sie marschierten durch die Innenstadt und skandierten die Namen der Kämpfer der Bürgerwehr. Sie forderten die Freilassung des inhaftierten Oppositionsführers Schirajr Sefiljan und den Rücktritt des armenischen Präsidenten Schersch Sargsjan.
Eine nahtlose Karriere
Sargsjan hat bereits zu Sowjetzeiten eine Karriere in der Kommunistischen Partei hingelegt. In den neunziger Jahren bekleidete er etliche Ämter – vom Chef des Ministeriums für nationale Sicherheit bis zum Premierminister. Im Präsidentensessel sitzt er seit 2008, nachdem am 1. März eine Demonstration in Jerewan zusammengeschossen wurde.
Die Menschen protestierten damals gegen die Fälschung der Wahl. Zehn Menschen wurden getötet, hunderte Oppositionelle landeten im Gefängnis, der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Medien, die nicht loyal zur Staatsmacht waren, wurden verboten. Bei der Zerschlagung der Demonstrationen half die Armee – das war eine klare Verletzung der armenischen Verfassung.
Keiner der Schuldigen ist bestraft worden. Selbst die Europäische Kommission hat das Kapitel „Erster März” für abgeschlossen erklärt. Inzwischen hat Sargjasan die Verfassung geändert. Er darf jetzt auch nach seiner zweiten Amtszeit an der Macht bleiben.
Radikalisierung seit dem Berg-Karabachkonflikt im April
Die Unzufriedenheit mit der Staatsmacht ist in Armenien allgegenwärtig und richtet sich vor allem gegen die oligarchischen Strukturen: Verwandte des Präsidenten und sein Umfeld kontrollieren das Importmonopol von Gütern des täglichen Bedarfs wie Zucker und Mehl. Bereits im Juni vor einem Jahr protestierten Tausende Armenier unter dem Motto „Nein zur Plünderung“ gegen hohe Strompreise.
Die Lage hat sich seit dem noch verschärft. Im April dieses Jahres ist der Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach wieder entflammt. Weil die Opposition in diesem Konflikt ähnliche Positionen wie die Regierungspartei vertrat, sind seit dem radikale nationalistische Organisationen und Politiker, die nicht im Parlament vertreten sind und keinen direkten Zugang zu Massenmedien haben, wieder auf den Plan getreten.
Die sichtbarste dieser Organisationen ist das „Konstituierende Parlament” um Schirajr Sefilian, einen Armenier aus Beirut mit Kriegserfahrungen im Libanon und Karabach. Er wurde im Vorfeld eines Treffens des armenischen und aserbaidschanischen Präsidenten verhaftet und der Planung eines Staatsstreichs beschuldigt.
Ein Knecht Moskaus?
Nach einem seiner Mitstreiter, Garegin Tschugasian, wird bis heute gefahndet. Ein weiterer, Varuschan Avetisian, früher Jurist im Verteidigungsministerium, ist einer jener bewaffneten Männer, welche die Polizeistation besetzt halten – und der Sprecher der Bürgerwehr.
Die Mitglieder des „Konstituierenden Parlaments” und Veteranen des Karabach-Krieges werfen Sargjasan vor, sich zum Knecht Moskaus zu machen. Sie beschuldigen ihn des Verrats der Interessen Armeniens und werfen ihm vor, er wollte das „mit einem Blutzoll eroberte Land” Karabach wieder abgeben. Sie warnen öffentlich, dass das Volk das Recht zu einem bewaffneten Aufstand hat.
Diese Äußerung ist in Armenien durchaus normal und fällt nicht aus dem Rahmen des üblichen Populismus. Über eine Erschießung des Präsidenten und seiner Oligarchen spricht man mittlerweile offen auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und den sozialen Netzwerken. Viele Armenier sehen darin den einzigen Weg, in Armenien etwas zu verändern. Nur die direkte Aktion, die Besetzung der Polizeistation, hat die radikalen Oppositionellen nun populär gemacht.
Denn zum ersten Mal haben sie das Gewaltmonopol des Staates verletzt - in einem Land mit zwei Millionen Einwohnern (offiziell sind es drei), in dem der Präsident 40.000 Polizisten hat, einen nationalen Sicherheitsdienst und eine Armee von 70.000 Mann (inklusive der Streitkräfte Karabachs). Zusätzlich hat Sargsjan Unterstützung vom bewaffneten Umfeld der Oligarchen und weitere potenzielle Helfer von der russischen Militärbasis.
„Säuberungen“ auch unter neuen Machthabern
Jetzt ist die Bürgerwehr an der Spitze ihrer Popularität angelangt. Die Menschen unterstützen sie in ihren Forderungen: Der Präsident soll zurücktreten. Jeder soll das Recht haben, seine Würde zu bewahren. Die Bürgerwehr verspricht jedem eine Maschinenpistole, der es schafft, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen und sich ihnen anschließt.
Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass sie die Macht an sich reißen. Wenn Sargsjan die Macht behält, wird er die Schrauben anziehen in Armenien. Es wird Säuberungen gegen die „Illoyalen“ geben.
Die Bürgerwehr verspricht allerdings ebenfalls, „das Land von Dreck zu säubern”, um dann „gerechte Wahlen” abzuhalten. Veränderungen der wirtschaftlichen Situation sind auf keinen Fall zu erwarten: Weder die Staatsmacht noch ihre Opponenten wollen vom Militarismus und dem Faktor „externer Feind” abrücken. Das verheißt weder eine neue Verteilungslogik für den Staatshaushalt noch die Öffnung der Grenzen mit den Nachbarstaaten.