Slowakei

Čarnogurský: Wenige wissen, was die EU bedeutet


Frage: Wie sehen Sie die Hoffnungen der Slowakei im Bezug auf den EU-Beitritt und wie stehen die Chancen, dass diese tatsächlich erfüllt werden?

Ján Čarnogurský: Immer noch gilt, dass eigentlich ziemlich wenige Leute in der Slowakei genau wissen, was die EU eigentlich bedeutet. Man muss sicher unterscheiden zwischen den Vorstellungen einer gebildeten Schicht im Land, bestehend aus der Intelligenz und den Unternehmern, und den Vorstellungen der breiten Masse. Die Erwartungen Letzterer sind zur Zeit ziemlich eng mit finanziellen Subventionen verbunden, die der Bildungsschicht eher mit einer breiten Teilnahme am Geschehen in Europa. Aber dass die Slowakei mit dem Beitritt Teil eines größeren Europa werden wird, das eine fast unbeschränkte Bewegungsfreiheit ermöglicht, gefällt praktisch fast allen Slowaken. Ich glaube, dass das Gros unserer Hoffnungen weitgehend erfüllt wird.

Frage: Wo steht die Slowakei im Prozess der europäischen Integration? Ist sie bereit für die EU?

Čarnogurský: Schon die letzten Jahre nach der Wende haben gezeigt, dass die Slowakei trotz einiger Schwierigkeiten vollkommen konkurrenzfähig sein kann und dies auch ist. Während meiner Amtszeit als Justizminister hatte sich der Staat beispielsweise im Bereich der Gesetzgebung und Justiz an die EU-Anforderungen anzupassen. Praktisch hatten wir da bei unseren Fortschritten keine Schwierigkeiten mit den alljährlichen Kontrollen aus Brüssel. Die Konkurrenzfähigkeit der Slowakei liegt dennoch zur Zeit sicher noch stärker an den Menschen als an der Infrastruktur des Landes. Erstere sind hier aber sicher wichtiger. Die nach dem Beitritt zu erwarteten Steuererhöhungen werden uns sicher Probleme bereiten. Aber im Prinzip sind wir auf den Beitritt und die EU-Erweiterung gut vorbereitet - in mancher Hinsicht vielleicht sogar besser als unsere westlichen Nachbarn: Die Autobahn zwischen Bratislava und Wien ist auf slowakischer Seite bereits bis zur österreichischen Grenze ausgebaut. Auf der anderen Seite, im EU-Land Österreich, fehlen da immer noch einige Kilometer.

Frage: In Brüssel nennt man die Slowakei bereits den „kleinen Tiger“. Es gab hier vor Kurzem einschneidende wirtschaftliche Reformen: die Einführung einer Flat-Tax von 19 %, die die Niederlassung für ausländische Investoren sicher attraktiv macht, und eine weitgehende Öffnung des Immobilienmarktes ab dem 1. Mai. Dazu kam der jüngste Zuschlag von Hyundai Motor. Sind dies erste wichtige Schritte und Zeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs?

Čarnogurský: Ja, das ist sicher so, dieser Aufschwung findet sichtbar statt. Da er aber von Westen kommt, findet er zunächst auch nur hauptsächlich im Westen des Landes statt. Traditionell war die Region um Bratislava, hin bis nach Žilina und Nitra immer entwickelter als der Osten der Slowakei. Und diese Unterschiede in der Entwicklung halten leider an.

Frage: Trotz dieser positiven Signale läuft hier gleichzeitig eine Volksabstimmung über ein Misstrauensvotum gegen die Regierung und aus dem Osten der Slowakei hört man von Hungerrevolten der dort lebenden Roma. Wie verträgt sich das?

Čarnogurský: Nach dem Kommunismus und den Jahren der Mečiar-Regierung begannen die wirklichen Reformen erst im Jahre 1998 und kamen daher nicht allmählich sondern innerhalb sehr kurzer Zeit. Natürlich gab es dabei Verlierer: Unter anderem geriet das Schul- und Gesundheitswesen in finanzielle Schwierigkeiten - aber eigentlich nicht wegen der Reformen, sondern bedingt durch Altlasten, die die jetzige Regierung zu Recht nicht weiter vor sich herschieben kann und will. Ferner ist dieses Volksbegehren Teil eines normalen demokratischen Prozesses, in dem sich die Opposition engagiert hat. Die Mehrheit der Roma lebte fast immer einen anderen Lebensstil, eine engere Anpassung an die slowakische Mehrheit des Landes fand in dieser Hinsicht nie statt. Die gegenwärtigen Umwälzungen treffen die Roma nun besonders hart, da sie in der kommunistischen Zeit privilegiert waren. Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft fielen diese Privilegien weg und es konnten nur wenige neue, auf die Roma zugeschnittene Arbeitsstellen geschaffen werden. Zudem leben die Roma vorzugsweise in der Ostslowakei, wo die Arbeitslosigkeit mit ca. 25 % ohnehin besonders hoch und der Konkurrenzkampf um Arbeit mit den Slowaken dementsprechend heftiger ist. So erklären sich diese Unruhen.

Frage: Neben innerstaatlichen Spannungen mit den Roma gibt es auch immer wieder solche mit der großen ungarischen Minderheit im Land, auch mit dem Nachbarland Ungarn selbst. Glauben Sie, dass der EU-Beitritt an den Beziehungen zu diesen Völkern etwas verändern kann?

Čarnogurský: Insbesondere auf das Verhältnis zu Ungarn könnte er eine durchaus positive Wirkung haben. Beide Länder müssen nun nach denselben Regeln spielen. Die europäische Integration begann in den 50er Jahren im Zeichen der Idee, den Frieden in Europa dauerhaft zu sichern, wirtschaftliche und politische Vorteile sind dazu nur als Zugaben hinzugetreten. Diese Funktion hat die EU die ganze Zeit bereits glänzend erfüllt. Dies wird auch für die Slowakei und Ungarn zutreffen. Wirtschaftlich sind unsere Beziehungen bereits völlig normalisiert.

Frage: Im Dezember 2003 ist der Versuch einer EU-Verfassung gescheitert. Wie wirkt sich dies auf den künftigen Status der Slowakei in der EU aus?

Čarnogurský: Ich sehe das positiv. Das war in unserem Interesse. Ich kritisiere die slowakische Regierung dafür, dass sie sich im letzten Jahr nicht auf die Seite Polens und Spaniens stellte, die damals die Regulierungen des Vertrages von Nizza verteidigten, die die kleineren Länder begünstigen. Die EU-Verfassung hätte die Einflussmöglichkeit der Slowakei in der EU deutlich verringert. Eine Konzentrierung der Vollmachten in Brüssel kann nicht im Interesse der Beitrittsländer sein, denn wir haben nicht 50 Jahre einer allmählichen europäischen Integration hinter uns, wie etwa die BRD, Belgien oder Holland. Die Mehrheit der Slowaken kennt die EU noch recht wenig. Brüssel sollte im Moment noch nicht zu viele Kompetenzen an sich ziehen. Obwohl der Mentalitätsunterschied der Slowaken zu den Tschechen sicher weniger groß ist als etwa der zu den Spaniern oder Engländern, klappte es auch in der Tschechoslowakei nicht mit einem übergeordneten staatlichen System. Die weitaus größeren Mentalitätsunterschiede innerhalb der EU werden auch in den nächsten Jahrzehnten bestehen bleiben. Wenn die institutionelle Integration eines Staatswesens wie das der EU weiter fortgeschritten ist als die faktische mentalitätsbezogene Integration seiner Einwohner, kann dies bei großen Teile der Bevölkerung zu zentrifugalen Bestrebungen, also zur Minderung des Integrationswillens führen. Die bisherige Integration verlief langsam, im zeitlichen Rahmen eines halben Jahrhunderts. Bei einer plötzlichen Beschleunigung könnte es zu Missstimmung bei ganzen Völkern kommen. Strategisch könnte das die Idee der Integration beschädigen.

Frage: Wer sind Ihrer Meinung nach die potentiellen Partner der Slowakei für künftige politische Strategien? Mit welchen Ländern wir man wohl hauptsächlich gemeinsame Ziele verfolgen und im Bereich der EU zusammenarbeiten?

Čarnogurský: Ich denke, am Anfang werden dies Polen und Tschechien, wahrscheinlich auch die Baltischen Staaten sein. Denn ihre gesellschaftlichen Bedingungen sind den unseren ziemlich ähnlich. Später wird diese Kooperation zwischen den Staaten mehr zu Gunsten einer Zusammenarbeit zwischen gleichgesinnten politischen Parteien in den einzelnen Ländern zurücktreten. Die Partei KDH (Christlich-demokratische Bewegung) stand beispielsweise immer schon der CSU näher als der CDU. Hier sehe ich Verbündet für eine Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung der ethisch-kulturellen Hoheit unserer Länder gegenüber Brüssel - auch in ähnlich orientierten Parteien in Österreich, Italien und Frankreich.

Frage: Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt eine „europäische Identität“ in der Slowakei?

Čarnogurský: Da zweifle ich eher. Die wahre Bedeutung des Begriffs ist vielen Menschen unbekannt. Sie findet sich vielleicht bei einigen Hundert slowakischen Soldaten, die in verschiedenen internationalen Friedensmissionen irgendwo in der Welt dienen und ständig mit Österreichern, Polen und Deutschen zusammenarbeiten. Da sieht man, was es heißt, Europäer zu sein.

Frage: Was können die Slowaken Ihrer Meinung nach an“ typisch Slowakischem“ in die Union einbringen?

Čarnogurský: Die Fähigkeit, härtere Bedingungen zu ertragen!

Frage: Was bedeutet der 1. Mai2004 für Sie persönlich? Wo und wie werden Sie ihn verbringen?

Čarnogurský: Als 1991 der Beitritt der damaligen Tschechoslowakei zur EG diskutiert wurde, wurde ein Satz von mir bekannt, der besagte, dass die Slowakei im zukünftigen integrierten Europa ihr eigenes Sternchen und ihren eigenen Stuhl haben will. Beides werden wir am 1. Mai erreichen. In diesem Sinne wird meine nun 13 Jahre alte Vision Wirklichkeit. Das wird mich mit großer Freude erfüllen. Ich werde den Tag wahrscheinlich irgendwo in der Hohen Tatra verbringen.

Ende


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