Slowakei

Der „kleine Tiger“ setzt zum Sprung an

Man muss es sich so vorstellen: Am linken Ufer der Donau bei Bratislava sitzt ein kleiner Tiger und blinzelt nach Westen. Schließlich setzt er zum Sprung an, löst sich vom Boden, seine Vorderpfoten erreichen glücklich das andere Ufer. Da sein Schwanz aber irgendwo zwischen den kantigen Felsen der Hohen Tatra verknotet festhängt, landet er mit dem Hinterteil geräuschvoll im Wasser.

Der Tiger heißt Slowakei. Echte Aufbruchsstimmung vor dem EU-Beitritt herrscht hier vor allem im Westen des Landes. Die Hauptstadt Bratislava vermittelt den Eindruck, als hätte es schon längst den Sprung ins EU-Becken getan: Die Hauptstadt entwickelt sich bereits über die noch bestehenden Grenzen hinweg zum wirtschaftlichen Zentrum, auch für seine österreichischen und ungarischen Nachbargemeinden. Dicht sind bereits jetzt die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Österreich, in dessen Hand sich die Hälfte der slowakischen Banken befindet. Aber auch mit Ungarn, das zum Beispiel im Besitz der slowakischen Raffinerie Slovnaft ist. Daneben nimmt der tägliche Grenzverkehr der Einkaufstouristen auf beiden Seiten stetig zu und - so kurios es klingen mag - die Slowaken lassen dabei mehr Geld in Österreich als umgekehrt!

Signale des Aufbruchs setzt auch die Politik: Im Gegensatz zu Polen und Tschechien, die sich wirtschaftlich eher abschotten wollen, wird die Slowakei am 1. Mai den einheimischen Immobilien-Markt weitgehend öffnen, um Devisen ins Land zu locken. Die von der OECD gelobte Steuerreform (einheitlicher Lohnsteuersatz: 19 %) lockt vor allem österreichische Investoren in die Steueroase jenseits der Donau. Nach dem Flughafen von Bratislava, der vor einer teilweisen Privatisierung steht, streckt bereits jetzt der Wiener Konkurrent seine Finger aus. Und mit dem jüngsten Zuschlag von Hyundai Motor, das sein Auto-Werk nun in Žilina bauen wird, hat man gar die Konkurrenten Polen und Ungarn aus dem Rennen geschlagen: Signale des wirtschaftlichen Aufschwungs? In Brüssel nennt man das Land zwischen Donau und Tatra-Gebirge bereits jetzt mit Anerkennung den „kleinen Tiger“. Und das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche sagt den Slowaken für das nächste Jahr ein Absinken der Arbeitslosenquote von derzeit 18 % um immerhin 3 % voraus.

„Eigentlich ist der Beitritt für die Slowakei nichts Neues. Es wird endlich wieder so sein, wie damals zur Zeit der Donaumonarchie - alle Völker unter einem Dach!“ meint Peter Kadlec, 64, Taxifahrer aus Bratislava mit etwas Nostalgie. Dass seine Generation, die Alten also, nicht wirklich vom EU-Beitritt profitieren wird, gibt er unumwunden zu. Doch müsse man sich eben mit der Jugend solidarisch zeigen. „Die werden es einmal in der Union besser haben.“ Das 92%-ige „Ja“ der Slowaken zum EU-Beitritt im vergangenen Jahr (das Spitzenergebnis unter den Beitrittskandidaten) war bereits ein Ausdruck der großen Solidarität zwischen den Generationen mit Blick auf die Zukunft. „Jetzt geht alles leichter! Ich werde schleunigst meine Siebensachen packen und für fünf Jahre nach Deutschland gehen, um Diplomatie zu studieren - ein Traum!“ freut sich Eva Rybárová, eine 20-jährige Studentin aus Bratislava auf den 1. Mai.

Natürlich denken nicht alle so optimistisch. Das durch Lage und Status bevorzugte Bratislava, das in seiner Produktivität schon EU-Durchschnitt erreicht und Vollbeschäftigung bietet, ist natürlich Vorzeigeobjekt. Anders im Osten: Vor einigen Wochen erst protestierten Roma, die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe, gegen ihre Lebensmisere. Radikale Reformen der Regierung treffen vor allem die Landbevölkerung im Osten der Republik, wo die Arbeitslosenquote weit über dem Landesdurchschnitt liegt. Hier fürchten viele den Unionsbeitritt: „Das einzig Positive, das ich mir erhoffe, ist eine Anhebung der Leistungen unseres maroden Sozialsystems. Ansonsten befürchte ich vor allem höhere Preise und Arbeitslosigkeit,“ meint Zuzana Prokopová, 50, Lehrerin aus Košice. Und Kamil Baka, 52, ist sich sogar sicher: „Die in Bratislava haben uns an die EU verkauft!“

So mag man dem kleinen Tiger an der Donau beim nächsten Sprung über den Fluss eine weichere Landung wünschen und, dass sich sein Schwanz nicht wieder irgendwo im Hinterland verfängt.


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