Ängste und Kalkül
Wenn es um das Wissen von Minderjährigen über das Militärbündnis Nato geht, sind polnische Schüler unter ihren Altersgenossen nun wohl weltweit Spitze. Denn in den letzten Wochen wurden sie auf Initiative zweier Ministerien und des Staatspräsidenten im Unterricht über das Bündnis aufgeklärt. Auch der Nato-Gipfel, der am Freitag und Samstag in Warschau stattfindet, stand auf dem Stundenplan. In einer Lektion sollte etwa die Frage erörtert werden, „welche Auswirkungen die Lokalisierung von Nato-Basen in deiner Gemeinde“ haben kann. Die angehängten Inhalte suggerierten, dass Nato-Präsenz an der Weichsel vor allem Gutes bedeute.
Auch jenseits der Unterrichts-PR will die in Warschau regierende, nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit (PiS) den bevorstehenden Nato-Gipfel vor allem für ihre Zwecke nutzen. Zwar stehen für Warschau die sicherheits- und außenpolitischen Ziele im Fokus – also die Stationierung von rotierenden Nato-Brigaden, die es auch in den baltischen Staaten geben soll. „Viele Jahre schon ist Polen in der Nato, nun wird auch die Nato endlich in Polen sein“, sagt Verteidigungsminister Antoni Macierewicz. „Unser Teil Europas ist wirklich bedroht und der Aggressor heißt Russland.“
Doch im großen Nebeneffekt festigt der Warschauer Gipfel die seit November 2015 regierende PiS. Denn durch die zuletzt verschärfte Tonlage zwischen der Nato und Russland und die Bedeutung Polens in dieser Gemengelage gerät die umstrittene Innenpolitik der Regierung in den Hintergrund: Die Blockade des Verfassungsgerichts, die Verabschiedung weitgehender Anti-Terror-Gesetze oder neue Befugnisse von Geheimdiensten beim Ausspähen im Internet. Wenn Polens Staatschef Andrzej Duda am Freitag US-Präsident Barack Obama trifft, wird all das kaum Thema sein – dafür aber Polens Rolle in der Abschreckungspolitik gegenüber Russland.
Paramilitärische Schützenvereine
So hatte bereits im Mai der Bau einer US-Raketenabwehr in Nordpolen begonnen. Einen Monat später fand im Land das groß angelegte Anakonda-Manöver statt, an dem 19 Nato-Staaten beteiligt waren. Und die Nato-Russland-Akte von 1997, nach der es keine dauerhafte Stationierung substantieller Truppen des Bündnisses in ehemaligen Ostblockstaaten geben soll, würden PiS-Politiker am besten in den Papierkorb werfen.
Das Ziel dieser Maßnahmen ist jenseits der sicherheitspolitischen Aspekte klar: Die PiS will in der Bevölkerung als die einzige politische Kraft wahrgenommen werden, die die Sicherheit des Landes garantieren kann.
Als in dieser Woche die 2015 abgewählte, liberalkonservative Bürgerplattform (PO) Verteidigungsminister Macierewicz mit einem Misstrauensvotum stürzen wollte, sprachen PiS-Politiker von „Hochverrat“. Die PO selbst, sagte Macierewicz, habe in ihrer achtjährigen Regierungszeit lediglich „große Verdienste im Kaputtmachen der Armee“. Er verschweigt gern, dass die PO bereits 2015 die Anhebung des Verteidigungshaushalts auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschlossen hatte – eine Zielvorgabe der Nato. Und im März dieses Jahres passierte ein Gesetz das Parlament, das die Stationierung ausländischer Truppen im Land in Friedenszeiten erlaubt – die Opposition stimmte dafür.
Viele Polen sehen ihr Land aus historischen Gründen als potenzielles Opfer Russlands. 43 Prozent der Bürger halten laut einer Umfrage vom Mai den Ausbruch eines Krieges zwischen Russland und Polen oder einem anderen EU-Staat für möglich. Auch liberale Medien begrüßen folgerichtig die Stationierung von Nato-Truppen.
Einige der Schüler, die nun in den Schulen mehr über die Nato erfahren haben, könnten künftig selbst zur Waffe greifen. Entweder als Berufssoldaten in der derzeit 100.000 Mann zählenden Armee, die massiv aufgestockt werden soll – oder in einem der vielen paramilitärischen Schützenvereine im Land. 35.000 Mann aus diesen Reihen sollen in den nächsten Jahren als „Territorialverteidigung“ mögliche getarnte Invasoren bekämpfen.
Grzegorz Kwasniak, im Verteidigungsressort für die Einbindung der Paramilitärs zuständig, sieht das Ziel dieser Einheiten in der „Stärkung patriotischer und christlicher Fundamente unseres Verteidigungssystems. Patriotismus und Glaube“, so Kwasniak, „sind die beste Garantie für unsere Sicherheit.“