Der Markt ist schneller
Budapest. (n-ost) Vier beleibte, ältere Männer sitzen mit nacktem Oberkörper im dampfenden Budapester Széchenyi-Thermalbad und spielen Schach: eine Printkampagne der Metro-Handelsgruppe, die „schon überall da ist, wo der Euro erst noch hinkommt.“ Sie zeigt den Siegeszug des Kapitalismus in der europäischen Freihandelszone. Der Jurastudent Gábor Kovács sieht folglich „eine Parallele zwischen der EU und dem Ostblock sowjetischen Typs. Wird das neue System gerechter sein? Ich denke schon, aber die älteren Leute wissen nicht, ob sie noch einmal ihre Lebensweise ändern können.“ Vieles hat sich schon geändert: Nach der Wende ging die Privatisierung in Ungarn schneller als in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern voran, weil ab 1968 in der sogenannten „fröhlichsten Baracke“ des Sozialismus teilweise betriebliche Autonomie zugelassen worden war und eine Art Mittelstand entstehen konnte.
Mittlerweile ist die Privatisierung zu 80% abgeschlossen – meist durch den Verkauf der Staatsbetriebe an ausländische Investoren. Deutschland leistete gemäß seiner Rolle als engster Handelspartner Ungarns mit 10 Milliarden Euro ein Drittel aller Auslandsinvestitionen. Paradebeispiel ist das „Audi“-Werk im nordungarischen Győr, dem momentan mit Abstand größten Exporteur. Das sind die harten Fakten. Wie kein anderes Beitrittsland wird Ungarn aber von außen vor allem romantisiert: Zigeunermusik, Pusztaromantik, Plattensee, Salami. Doch mit Romantik ist heute wenig Politik zu machen. Seit der Wende hat sich die Zahl der Zigeunermusiker von 35.000 auf 3.000 verringert, die Roma, mit 700.000 Menschen die größte Minderheit im Magyarenstaat, werden als soziales Problem geächtet, der Plattensee hatte im Jahr 2003 so wenig Wasser wie noch nie, die Touristen fahren lieber nach Kroatien und die Salami macht das Portemonnaie überhaupt nicht dick. Fast die Hälfte des BIP wird heute nämlich von Firmen in ausländischer Hand erwirtschaftet, wie von Opel oder Audi.
So sind aus den strukturschwachen Regionen, besonders dem agrargeprägten Südungarn, EU-kritische Stimmen zu hören. Die Landwirte haben Angst benachteiligt zu werden, denn die Neuen erhalten nur 25% der Agrarsubventionen. Über die Angst vor einer Mitgliedschaft zweiter Klasse kursiert folgende Geschichte: „Die EU ist ein großes und reiches Haus. Die alten Mitgliedsstaaten ruhen sich im Wohnzimmer aus, während die neuen sogar noch nach dem Beitritt im Flur stehen bleiben müssen. Aber ihre Schuhe müssen sauber geputzt sein.“
Die schlechte Stimmung im Land resultiert aus der fehlenden Kommunikation der Regierung mit den Bürgern. Korinna Szűts, Sekretärin im Umweltministerium und Juradozentin, kritisiert: „Die Informationspolitik unserer Regierung in Bezug auf den Beitritt kann man als völlig dilettantisch bezeichnen. Der durchschnittliche Bürger weiß nicht, wie man Geld von der EU beantragen kann, die Unternehmer wissen nicht, was die neuen Anforderungen sind. Stattdessen bringen uns riesige Poster bei, dass Mohn – eine unserer nationalen Lieblingssüßigkeiten – auch nach dem 1. Mai zu kaufen ist. Dass und wie wir in EU-Staaten arbeiten können, darüber wird geschwiegen.“
Und anstatt mit der Bevölkerung Tacheles zu reden, beschäftigt sich die ungarische Politik momentan mit der Frühjahrsrede zur „Lage der Nation“ des Premierministers Péter Medgyessy aus der sozialistischen Nachfolgepartei MSZP: Für die Wahlen der 24 ungarischen EU-Parlamentarier solle eine Einheitsliste mit Kandidaten aus allen vier großen Parteien aufgestellt werden, denn man müsse nationale Einheit schaffen. Genau dies ist auch das Ziel der Oppositionspartei, des bürgerlich-konservativen, rechtsgerichteten FIDESZ, der als Europa-kritisch gilt. Ihr Vorsitzender Viktor Orbán, erschien gar nicht erst zu Sondierungsgesprächen. Das Land ist zwischen den beiden Großparteien gespalten, von Einheit keine Spur. Vielleicht muss man es machen wie die Erotik-Fernsehmoderatorin Anett Fehér im Privatsender BudapestTV. Als sie Ende Februar ankündigte, sich für einen Sitz im Europaparlament zu bewerben, trug sie nichts als ein bisschen Schmuck und machte damit dem Ruf Ungarns, eine Domäne von scharfen Produkten wie Porno und Paprika zu sein, alle Ehre. Den Humor haben die Magyaren also allem Pessimismus zum Trotz noch nicht verloren.
Nikola Richter Ende