Mazedonien

Die Straßen gehören ihnen

Demonstranten errichten ein kleines Katapult vor dem Regierungsgebäude. Eine vermummte Frau steckt einen Farbbeutel in das Katapult, zieht es mit ihrem Köpergewicht nach hinten und lässt los. Eine Ladung blauer Farbe prallt gegen die neoklassizistische Fassade. Auf diese Weise protestieren die Jungen gegen eine Regierung, der sie Wahlbetrug, Korruption und die Inhaftierung von politischen Gefangenen vorwerfen.

Die Schuhe von Lumi Bekiri sind voller Farbspritzer. „Es gibt zwei Mazedonien“, sagt der 21-Jährige und trinkt einen Schluck Wasser: „Es gibt das Mazedonien, in dem wir heute leben müssen. Und es gibt ein Mazedonien, in dem die Menschen keine Angst voreinander haben.“

Bekiri streicht seine langen Haare nach hinten. Er steht am Rande der osmanischen Altstadt Skopjes, das Thermometer zeigt 39 Grad, nur im Schatten ist es noch auszuhalten. Ein Straßenverkäufer versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen und Fächer zu verkaufen. Bekiri winkt ab, drückt dem Verkäufer aber trotzdem zehn Denar in die Hand.


Durchgesickerte Gespräche

Bekiri war 16 Jahre alt, als er zum ersten Mal gegen die Regierung demonstrierte. Das war im Jahr 2011. Damals prügelten Polizisten in Skopje den 21 Jahre alten Martin Neskovski zu Tode, während die Regierungspartei ihren Wahlsieg feierte. Die Umstände des Todes blieben unklar. Im Mai 2015 sickerten dann aufgenommene Gespräche zwischen Ministern an die Öffentlichkeit. Aus ihnen geht hervor, dass die Hintergründe des Mordes vertuscht werden sollten.

Der Tod des jungen Mannes war der Auslöser für die größten Massenproteste seit der Unabhängigkeit des Landes. Zehntausende gingen damals gegen die Regierung auf die Straße – die Proteste halten bis heute an. Die Opposition boykottiert das Parlament bereits seit zwei Jahren, weil sie der Regierungspartei VRMO Wahlbetrug vorwirft. Angesetzte Neuwahlen wurden wiederholt abgesagt, da die Oppositionsparteien nicht mit einem fairen Ablauf rechnen.

Dass in Mazedonien viele Ethnien nebeneinander leben, sorgte jahrelang dagegen nicht für Konflikte. Nur zwei von drei Einwohnern sind Mazedonier. Die zweitgrößte Gruppe stellen Albaner, die rund 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Es gibt zudem Minderheiten von Serben, Türken und Roma.


„Wir müssen zusammenstehen“

Lumi Bekiri, der selbst Albaner ist, erklärt, dass die bunte Revolution nicht nur wegen der Farbbeutel so heißt: „Wir selbst sind so bunt wie diese Revolution und gehen gemeinsam gegen die Regierung auf die Straße. Egal ob Mazedonier, Albaner, Serben oder Roma. Wir müssen zusammenstehen.“

Den ethnischen Frieden habe die Regierung im vergangenen Jahr versucht zu stören, erklärt Bekiri, doch es sei ihr nicht gelungen. In seiner Heimatstadt Kumanovo, wo Albaner und Mazedonier friedlich zusammenleben, starteten die mazedonischen Sicherheitskräfte im Mai 2015 eine Anti-Terror-Aktion gegen mutmaßliche albanische Separatisten – genau zu dem Zeitpunkt, als wieder einmal Zehntausende in Skopje gegen die Regierung von Premierminister Nikola Gruevski auf die Straße gingen. 18 Menschen wurden getötet. Dennoch kochte die Lage in Kumanovo nicht hoch.

Bekiri bezweifelt, dass es den Sicherheitskräften wirklich um mutmaßliche albanische Terroristen ging, wie sie später behaupteten. Er glaubt, dass die Regierung versuchte, einen ethnischen Konflikt zu schüren, um von den Massenprotesten in der Hauptstadt abzulenken. Darauf weisen auch Recherchen des unabhängigen mazedonischen Magazins Fokus hin.


Justiz per Telefon

Doch es kam anders: Die Menschen in Kumanovo gingen nach der Polizeiaktion gemeinsam gegen die Regierung auf die Straße und hielten die mazedonische Flagge hoch, neben der albanischen. Darauf ist Lumi Bekiri sichtlich stolz: „Nach 25 Jahren Unabhängigkeit haben wir zum ersten Mal eine Situation, in der die nationale Zugehörigkeit keine Rolle spielt.“

20 Minuten Fußweg von der osmanischen Altstadt entfernt steht das Izlet Café. Hier treffen sich Regierungsgegner und planen Aktionen. Auch Mitarbeiter der Behörden kommen oft zu Besuch und begutachten jedes Detail. Scheinbar suchen sie nach einem Vorwand, um den Treffpunkt der Demonstranten zu schließen.

Der 23-jährige Medizinstudent Demijan Haji-Angelkovski ist zuversichtlich: die Proteste gegen die Regierung werden wirken. / Foto: Tomislav Georgiev, n-ost


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Am Eingang des Cafés klebt braune Farbe: „Das ist eine billige Kopie“ winkt Demijan Haji-Angelkovski ab. „Regierungsanhänger haben den Laden beworfen, um sich an uns zu rächen.“ An seinem Rucksack trägt der 23-Jährige Anstecker. Auf einem ist das durchgestrichene Konterfei des Machthabers Nikola Gruevski zu sehen. Darunter die Worte: „Er ist fertig“. Es ist das Motto, mit dem vor 17 Jahren bereits das Milosevic-Regime im Nachbarland Serbien gestürzt wurde.
Haji-Angelkovski trifft sich mit Mihaela Ivanova, um mit ihr Aktionen für die bevorstehenden Proteste zu planen. Die 23-Jährige studiert Jura und wirft der Regierung vor, die Trennung zwischen Staat und Partei aufgehoben zu haben: „Wenn du einen Job willst, brauchst du eine Empfehlung der Partei. Die Justiz funktioniert per Telefon“, klagt Ivanova. „Jemand ruft den Richter an und sagt ihm, welches Urteil er fällen soll.“


Freunde unter Hausarrest

Einmal nahm die Polizei Ivanovas Personalien auf und drohte ihr mit Gefängnis. Einige ihrer Freunde wurden bereits unter Hausarrest gestellt oder in Untersuchungshaft – aus fadenscheinigen Gründen, sagt sie: „Wenn du gegen uns bist, dann wirst du bestraft,“ fasst Ivanova die Botschaft der Regierung zusammen. Davon will sie sich aber nicht einschüchtern lassen: „Sie haben ihre Methoden, aber die Straßen gehören uns.“

Haji-Angelkovski studiert Medizin und ist sich sicher, dass seine Teilnahme an Protesten Folgen haben wird: „Wir sind markiert. In einem staatlichen Krankenhaus bekomme ich ganz sicher keine Arbeit.“ Mit diesem Klientelismus versuche der Staat, sich die Menschen gefügig zu machen, sagt er: „Wenn du beim Staat arbeitest und demonstrierst, verlierst du deine Arbeit.“

Auch dagegen demonstrieren Ivanova und Haji-Angelkovski. Friedlich, wie sie betonen. Mit Farbbeuteln, nicht mit Steinen. Das Gesicht Skopjes haben die Demonstranten bereits verändert. Jetzt wollen sie auch die Zustände in Mazedonien ändern. Sie fordern faire Wahlen und Strafverfahren gegen den Gruevski-Clan.


Sie wollen nicht gehen

Mazedonien ist ein Auswanderungsland. Seit der Unabhängigkeit haben Hunderttausende das Land in Richtung Westen verlassen. Nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch, weil sie das Klima der Angst nicht aushalten, das die Regierung geschaffen hat.

Haji-Angelkovski und Ivanova werden oft gefragt, warum sie denn in Mazedonien bleiben, wenn es ihnen nicht gefällt. Ivanova sagt: „Meine Familie und meine Freunde sind hier. Ich lasse mich nicht aus meinen Land schmeißen.“ Haji-Angelkovski ist da pessimistischer: „Ich will auch nicht gehen, aber wenn Gruevski gewinnt, dann wird Mazedonien zu einer offenen Diktatur. Dann will ich hier nicht leben.“

Um das zu verhindern, bereiten sich beide auf die Proteste vor. Sie ziehen T-Shirts an auf denen „Soros-Army“ steht – eine Anspielung darauf, dass ihnen Regierungsmedien vorwerfen, von der Stiftung des US-amerikanischen Finanzinvestors George Soros bezahlt zu werden. Sie malen ihre Gesichter bunt an und wollen so lange weiterdemonstrieren, bis sie den Kampf um Mazedoniens Zukunft gewonnen haben.


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