Türkei

Türkische Journalisten: Gegen die Schere im Kopf

„Die Situation von Journalisten in der Türkei war niemals gut. Doch jetzt ist der politische Druck so groß, dass wir anfangen, uns selbst zu zensieren. Das passiert sogar mir, aber bei Bianet motivieren wir uns, mutig zu sein. Wenn ich merke, dass ich mich selbst zensiere, frage ich mich, was ich tue und korrigiere meine Fehler. Aber die sogenannte Schere im Kopf ist nicht verwunderlich, schließlich kann alles, was du schreibst, gegen dich verwendet werden.

Wenn man erst einmal im Gefängnis ist, kann die Regierung behaupten, man sei gar kein Journalist. Es ist so einfach, die Wirklichkeit zu manipulieren. Im vergangenen Jahr wurde eine unserer Reporterinnen auf der Gay Pride in Istanbul in Handschellen abgeführt. Ihre Kamera lief noch, als ein Polizist zu ihr sagte: Alles ist anders geworden, nichts wird so sein wie bisher.


Kein Unterschied mehr zwischen Mainstream- und Staatsmedien

Vertreter der Europäischen Union befragten türkische Offizielle zu dem Fall, und diese antworteten, dass sie angenommen hatten, meine Kollegin wäre Studentin und gar keine Journalistin. Doch sie hatte damals ihren Presseausweis um den Hals gehabt, sie hatten ihn einfach abgerissen. An diese Einschüchterungsstrategie der Regierung haben sich Journalisten in der Türkei längst gewöhnt.

Nicht nur Haft und Verfahren dienen dazu, Journalisten einzuschüchtern und mundtot zu machen: In den vergangenen Jahren sind nahezu alle Reporter, die über Menschenrechtsverletzungen berichteten, entlassen worden. Sie arbeiten jetzt als freie Journalisten. Der Diskurs hat sich komplett gewandelt: Mainstream-Medien haben sich in ihren Aussagen komplett den regierungsfreundlichen Medien angenähert. Denn die Regierung droht den Eigentümern von Zeitungen und Fernsehsendern mit wirtschaftlichen Sanktionen und Geldstrafen.

Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass Journalisten jetzt besser organisiert sind. Beispielsweise haben ein paar Kolleginnen und ich eine Journalistinnen-Gruppe gegründet. Wenn einer von uns etwas passiert, sagen wir den anderen Bescheid und geben auch Pressemitteilungen heraus.

Cicek Tahaoglu in der Redaktion von Bianet. (in der Mitte im Bild) / Foto: Delizia Flaccavento , n-ost.


Der Geist von Gezi

Vor kurzem hat der Fall von Arzu Yildiz international für Aufsehen gesorgt. Die Journalistin bekam eine Haftstrafe von 20 Monaten, weil sie auf ihrer Website Gri Hat über angebliche Waffentransporte nach Syrien berichtete – ebenso wie die Cumhuriyet-Redakteure Can Dündar und Erdem Gül. Arzu Yildiz' Fall wurde bekannt, weil sie im Zuge des Verfahrens das Sorgerecht für ihre Kinder verlor. Dies geschieht Eltern immer, wenn sie für mehr als ein Jahr verurteilt werden. Doch weil Yildiz es öffentlich anprangerte, wurde das ganze Land auf diesen Missstand aufmerksam. Das war sehr wichtig, denn jetzt machen sich viele Menschenrechtsgruppen für eine Gesetzesänderung stark.

Gerade ausländische Journalisten fragen oft, was vom Geist der Geziproteste übrig geblieben ist und ob er unterdrückt werde. Das stimmt. Die Proteste waren sehr wichtig, weil sie ein neues Bewusstsein in die Türkei gebracht haben. Viele von uns sahen damals zum ersten Mal die Polizisten, rochen Tränengas, wurden zum ersten Mal Opfer der Staatsgewalt.

Meine persönliche Beobachtung als Journalistin ist, dass die Proteste zwar etwas verändert haben. Aber dieser neuen Kultur steht jetzt etwas völlig Gegensätzliches gegenüber, das jetzt alle Energie mit Drohungen erstickt. Vor fünf Jahren lief ich noch während des Fastenmonats Ramadans nachts allein durch die Gassen hinter Istanbuls größtem Boulevard, der Unabhängigkeitsstraße. Ich fühlte mich nicht bedroht. Dieses Jahr trage ich während dieser Zeit einen langen Rock. Die aktuelle Situation verändert den Lebensstil.


Der Minirock als Protestsymbol

Einen Minirock während des Fastenmonats zu tragen, ist heute eine Protestgeste. Dabei hängt dieser Rock seit Jahren in meinem Schrank, bisher fand ich es normal, ihn zum Ramadan zu tragen.

Also zensiere ich mich an einem Tag und trage einen langen Rock, während ich an einem anderen protestiere, indem ich den Minirock anziehe. Die Polarisierung ist stark geworden. Wenn sie schon morgen die Gesetze ändern und Minderheitenrechte schützen würden - es würde lange dauern, bis die soziale Kultur sich wieder normalisieren würde.

Das Schlimmste ist: Viele Journalisten wissen nicht einmal, warum gegen sie ermittelt wird, weil die Akten oft sofort als vertraulich eingestuft werden – angeblich aus Sicherheitsgründen. Die größte Gefahr in dieser Situation ist die schleichende Normalisierung des Geschehens: Wenn vielen dasselbe passiert – Verhaftungen, Zensur – erscheinen diese Dinge irgendwann als normal. Und gegen dieses Risiko müssen wir ankämpfen“.

Protokoll: Delizia Flaccavento

Aus dem Englischen von Sonja Volkmann-Schluck, n-ost

Zur Person:

Cicek Tahaoglu ist seit 2009 Gender- und LGBT-Redakteurin für Bianet, einer bereits im Jahr 2000 gegründeten unabhängigen Nachrichten-Websites in der Türkei. Bianet beschäftigt sich seit der Verschärfung der politischen Lage vor allem mit Menschenrechts- und Minderheitenthemen.

Informationen zu dem Portal Bianet finden Sie hier im eurotopics-Medienindex.


Weitere Artikel