Litauen

"Ich verstehe das selbst nicht"

Vilnius (n-ost). Sieht so ein Mörder aus? In hellgrauem Wollpullover und Jeans, das Gesicht eines großen Jungen, blass und mit weichen Zügen. Stumm und beinahe regungslos steht Bertrand Cantat, einst gefeierter Sänger der französischen Protest-Rockgruppe ,Noir Désir', wie schon die letzten Verhandlungstage in seiner Kabine und lauscht der Urteilsbegründung des Richters.

Der spricht von der "zweifelsfreien Schuld" des Angeklagten und "vorsätzlichem Handeln" und begründet damit sein Urteil: acht Jahre Freiheitsentzug für Bertrand Cantat wegen Totschlags, verübt an seiner großen Liebe, der Schauspielerin Marie Trintignant, in der Nacht des 26. Juli 2003 in ihrem gemeinsamen Hotelappartement in der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Acht Jahre Gefängnis: In den Augen von Maries Mutter Nadine Trintignant ein noch zu mildes Urteil. Die bekannte französische Film-Regisseurin und Ex-Ehefrau von Jean-Louis Trintignant spricht von Bertrand Cantat nur als vom "Mörder meiner Tochter" und lässt auch im Prozess keinen Zweifel daran, dass sie sich die härtest mögliche Strafe wünscht. "Er wusste genau, was er tat. Sonst hätte er nach dem ersten Schlag, der schon einer zu viel war, aufgehört. Ich spreche für alle Maries dieser Welt", sagt sie und macht sich zum Anwalt der Opfer männlicher Gewalt. Sie würdigt Cantat während des gesamten Prozesses keines Blickes.

Eine viel zu harte Strafe und ein falsches Urteil, meint die Verteidigung: "Wir gehen in Berufung, keine Frage", erklärt der litauische Anwalt von Cantat. "Bertrand hat sich zur Tat bekannt, aber immer erklärt, dass es kein Vorsatz war." Er will die Tat als fahrlässige Tötung geahndet sehen, mit einem Strafmaß von unter vier Jahren.

Damit geht die Suche nach der Wahrheit in eine neue Runde. Eine Wahrheit, die sich nach Ansicht des Staatsanwaltes ganz simpel darstellt: Bertrand ist an diesem Abend des 26. Juli 2003 eifersüchtig auf Marie und will sie zur Rede stellen. Sie ignoriert sein Drängen. Spät abends im Hotel eskaliert die Spannung. Ein Wort gibt das andere, Marie schlägt auf ihn ein.

Bertrand hat sie extra nach Litauen zum Dreh begleitet und ist zutiefst verletzt. Er sieht nur noch Undank, eine große Wut steigt in ihm auf. Der Alkoholkonsum des voran gegangenen Abends tut sein Übriges. Er schlägt zurück, heftig. Eine Ohrfeige, zwei, drei, vier, so viele gesteht Bertrand Cantat später ein, vielleicht waren es auch mehr. Sieben Wunden werden später an ihrem Kopf fest gestellt, ein gebrochene Nase und eine blutende Augenbraue, 19 Wunden am Körper insgesamt.

Anstatt Hilfe zu rufen, schleift er die Bewusstlose ins Bett. Als am nächsten Morgen der Notarzt gerufen wird, liegt Marie bereits im Koma. Fünf Tage später stirbt sie im Krankenhaus in Paris an den Folgen der Schläge aus Bertrands rechter Hand mit den schweren Silberringen an den Mittel- und Ringfinger.

Klare Sache, sagt der Staatsanwalt, vorsätzlicher Totschlag, Motiv Eifersucht. Neun Jahre hatte er gefordert. Ihm ist der ganze Rummel sichtlich suspekt. Er frage sich, erzählt er im persönlichen Gespräch, warum man die ganze Vorgeschichte so breit auswälze, entscheidend sei doch der Hergang der Tat.

Doch die Vorgeschichte ist das, was die französische Journalistenschar interessiert. In einer guten Hundertschaft sind sie in der litauischen Hauptstadt aufgetaucht, um über das Drama um die vermeintliche "Schöne und das Biest" zu berichten.

Ganz Frankreich spekuliert über die Geschichte der romantischen großen Liebe zwischen einem populären Rocksänger und einer verträumten Schauspielerin. Am ersten Prozesstag bauen sich die Photographen und Kameraleute bald drei Meter hoch vor der Kabine des Angeklagten auf, als Bertrand Cantat in den Saal geführt wird. Wie ein wildes Tier im Zirkus.

In der Realität des Gerichtssaals in der litauischen Hauptstadt Vilnius, 2000 Kilometer von Paris entfernt, sieht alles viel nüchterner aus. Bertrand Cantat gibt nicht das Bild eines gefährlichen Schlägers ab. "Er hat nie die Hand erhoben, weder gegen mich, noch gegen seine Kinder, noch gegen irgend jemand, den ich kenne", verteidigt ihn seine Frau Krisztina Rady mit fester Stimme. Die Ungarin, mit der er seit sieben Jahren verheiratet ist und die er im Winter 2002 für Marie Trintignant verließ, legt sich mit aller Kraft für ihn ins Zeug: "Ich kann ihn mit zwei Worten beschreiben: ehrlich und sanft. Glauben Sie mir, ich hätte nicht zehn Jahre mit einem Macho zusammen leben können."

Sie und Cantats Verteidigung gehen auf seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ein, der auch in seinen sozialkritischen Liedern zum Ausdruck komme. Er habe die Dinge stets ausdiskutiert.

Das ist der entscheidende Punkt: Bertrand Cantat war nicht der schillernde Rockstar, sondern ein braver, in sich selbst unsicherer, empfindlicher Musiker. Maries Ex-Ehemann Samuel Benchetrit hat es in seiner Aussage deutlich gemacht: "Bertrand fühlte sich von der Filmwelt ausgeschlossen." Er war drei Monate in Litauen beim Dreh dabei, ohne seine Band, seine Fans, seine Konzerte, aber mit viel Zeit. Marie dagegen war mit den Dreharbeiten beschäftigt, stets ihre Mutter, die ihn, Bertrand, nie leiden konnte, sowie ihren Bruder und den ganzen Filmclan an ihrer Seite.

Bertrand Cantat bekam in dieser Zeit vor Augen geführt, dass für Marie das Leben und die Liebe etwas Leichtes, Beschwingtes war. Ihre vier Kinder haben drei verschiedene Väter, dem Haschischkonsum war sie nicht abgeneigt. Ihre Spontaneität und Intensität hatten ihn überrollt, er hatte gedacht, das müsse die große romantische Liebe sein. Aber er konnte da nicht mithalten, der Brave, Nüchterne, der ein Soziologiestudium beendet hat. Zu viel Glamour, zu viel Leichtigkeit, wo er Festlegung suchte, eine Liebe nur für sie beide, geprägt von tiefen Gefühlen.

Bertrands Ego war tief verletzt: Hatte nicht er seine hochschwangere Frau verlassen, seine Kinder, bereit ein neues Leben zu beginnen? "Ich habe Marie geliebt, ich liebe sie und ich werde sie immer lieben", hat er in seinem Schlusswort wiederholt und sich aus tiefstem Herzen namentlich bei der Familie Trintignant entschuldigt.

In der Verletzung seines Egos hat er ein Leben ausgelöscht, das er für sich haben wollte und das nicht zu ihm gepasst hat. Er hat die Verantwortung dafür auf sich genommen. Wenn man sein erschöpftes Gesicht sieht, weiß man, dass er sich selbst am meisten geschadet hat.

ENDE


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