Der erste Friseur von Ocolna
„Deine neue Maschine ist da“, sagt der Postbote am Telefon und legt auf. Dragos Chelu muss sich beeilen. Er sucht passendes Geld zusammen und verlässt das Haus. Der Bote traut sich mit seinem Auto nicht runter von der Landstraße, stattdessen ruft er an und wartet etwas gelangweilt am Steuer. Derweil rennt Dragos über staubige Wege durch das Dorf Ocolna, vorbei an Kindern, die in der Sonne spielen. Die Pferdekutsche eines Nachbarn rumpelt an der Kirche vorbei und lässt eine Staubwolke hinter sich. „Die Gassen haben in Ocolna eh keine Namen und die Häuser keine Nummern“, sagt Dragos und lacht. Bis zum Asphalt, wie man hier die Landstraße nennt, sind es rund zehn Minuten zu Fuß. Und dann endlich kann Dragos seine Lieferung entgegennehmen: eine neue Haarschneidemaschine.
Dragos Chelu, 21 Jahre alt, ist der erste Friseur von Ocolna. Sein Traum: ein eigener Salon, hier, nicht weit von der Donau entfernt, im tiefen rumänischen Süden – einer Region, die von der politischen und wirtschaftlichen Transformation kaum profitiert hat. Im Gegenteil: Mit der Schließung der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe gingen viele Arbeitsplätze verloren. Von den rund 1.500 Einwohnern Ocolnas – fast alle von ihnen sind Roma – haben nur sechs einen festen Arbeitsplatz, lediglich vier haben Abitur gemacht. Kein Haushalt verfügt über fließendes Wasser, Gas oder moderne Kanalisation, asphaltierte Straßen sind rar. Dennoch ist die Bevölkerung von Ocolna weder veraltet noch in den Westen ausgewandert.
Es ist kurz vor Ostern, und Dragos erwartet in den nächsten Tagen viel Kundschaft, denn in Rumänien gilt es, dem Fest der Erneuerung in neuen Kleidern zu begegnen – und mit einer frischen Frisur. „Die alte Haarschneidemaschine muss jetzt in Rente, noch eine intensive Saison wird sie wohl nicht mehr überstehen“, sagt Dragos. Er ist ein großer, schlanker Mann mit tiefschwarzen Augen und einem scharfen Sinn für Ironie. Einmal die Haare schneiden lassen macht bei Dragos einen Euro, mit Bart zwei. Mehr können die Dorfbewohner nicht zahlen. Aber mit zehn bis 15 Kunden am Tag, wie es jetzt vor dem höchsten religiösen Feiertag des Jahres üblich ist, reichen nur zwei oder drei Tage Arbeit, um die 30 Euro für die Maschine abzuzahlen, rechnet Dragos vor.
Ein kleines Alkoholproblem
Er hat einen guten Kopf für Zahlen, obwohl er nur acht Jahre in die Schule gegangen ist. Sein Vater, so erzählt Dragos, habe „ein kleines Alkoholproblem“. „Nachdem der Alte seine Stelle als Wächter bei einem Staatsbetrieb verloren hatte wie alle anderen auch, konnte er nichts mehr finden und fing an zu trinken“, rekonstruiert Dragos die Geschichte. Der Vater konnte es sich nicht leisten, seine Kinder ins Gymnasium zu schicken.
Kaum einer der Einwohner Ocolnas hat einen Schulabschluss, mit dem sich eine qualifizierte Arbeitsstelle finden ließe. Viele sind praktisch Analphabeten. „Außerdem gibt es hier weit und breit ohnehin kaum Arbeit“, sagt Dragos. Nur im Sommer können die Menschen einen mageren Tageslohn verdienen, indem sie im benachbarten Dabuleni bei der Wassermelonenernte helfen. Selbst in der 40 Kilometer entfernten Kleinstadt Caracal sind nach der Wende nahezu alle Unternehmen längst bankrottgegangen.
Doch statt Ocolna zu verlassen, haben die Einwohner eine Initiative gegründet. Ihr Ziel: Das Dorf endlich ins 21. Jahrhundert zu überführen. Die Initiative entstand vor fünf Jahren, als sich herumsprach, dass EU-Gelder und andere Fonds auch für kleine Projekte vor Ort zur Verfügung stehen – und nicht nur vom Bürgermeister der Kommune abgerufen werden können. Costel Stoican, der einzige Kommunalrat im Ort, tat sich dafür mit seinem Sohn Hagi, dem Dorfglöckner, zusammen. Verstärkt werden sie von rund einem Dutzend junger Menschen – auch Dragos ist Teil der Initiative.
Der Dorfglöckner und die Bürokratie
Bisher hat die Gruppe, unterstützt von den Behörden, viel erreicht: Ocolna hat jetzt eine Aufbereitungsanlage für Trinkwasser. Auch gibt es mittlerweile ein kleines Zentrum für die medizinische Grundversorgung, einen Kindergarten und einen Schulbus, der die Schüler ins Gymnasium im Nachbarort bringt.
Dorfglöckner Hagi trägt entscheidend zu diesen Veränderungen bei. Heute ist der 21-Jährige kurz bei Dragos zu Besuch, um die Lage zu besprechen und sich währenddessen die Haare schneiden zu lassen. Die Männer begrüßen sich mit einer Umarmung und Dragos setzt Hagi auf einen kleinen Hocker, gleich vor der Haustür. Anfang Juni stehen in Rumänien die Kommunalwahlen an, die Weichen für die nächsten vier Jahre werden gestellt. Mit der Wasseraufbereitungsanlage wurde ein erster Schritt zur Modernisierung des Dorfes bereits getan. „Jetzt gibt es also Trinkwasser vor den Häusern“, sagt Hagi. „Wir müssen nun sicherstellen, dass es demnächst auch bis in die Häuser gebracht wird.“ Die nötigen Leitungen fehlen noch.
Für die Finanzierung des Projekts können EU-Gelder oder Fonds aus der Schweiz beantragt werden. Vorher müssen sich die Initiative und die Kommunalverwaltung allerdings noch abstimmen. Und jemand muss die zahlreichen Formulare ausfüllen. Dieser jemand ist in der Regel Hagi Stoican. „Er kennt sich mittlerweile mit der EU-Bürokratie aus“, erklärt Dragos und bringt seinem Mitstreiter noch die Koteletten auf die richtige Länge.
Nächster Schritt Friseursalon
Formell hat Dragos nie Friseur gelernt. Als er klein war, hat er seine mittlerweile verstorbene Mutter oft dabei beobachtet, wie sie den Nachbarn die Haare schnitt, um sich ein bisschen Geld zu verdienen. „Das machte Spaß“, stellt er fest. Danach wollte er es auch selber probieren, und heute wirkt er in jeder präzisen Bewegung wirklich professionell – vom Fehlen vieler erforderlichen Utensilien einmal abgesehen.
„Zweiter Schritt also: Wasser im Haushalt und vielleicht auch Kanalisation“, wiederholt Hagi. „Dritter Schritt: Friseursalon“, ergänzt Dragos und lacht. Denn ein eigener Salon war eigentlich immer sein Traum – und seit ein paar Jahren scheint der nicht mehr so realitätsfern zu sein, zumal auch dafür Geld aus EU-Fonds für strukturschwache Regionen zur Verfügung stünde. „Dann wirst du aber schon die Preise verdoppeln“, sagt Hagi augenzwinkernd. „Für dich verdreifachen“, kommt es sofort zurück.
Lachen muss man in Ocolna, folgert Hagi – und improvisieren. Neben der Haarschneidemaschine besteht die ganze Ausrüstung, über die Dragos im Moment verfügt, aus einem Kamm, einer Brüste, einem Rasiermesser und einer einzigen, einfachen Schere aus dem nächstgelegenen Supermarkt. Um die Haare seiner Kundschaft waschen zu können, muss er in einer kleinen Wanne Wasser holen, um es anschließend draußen auf dem Feuer oder im Winter auf dem Holzofen zu erwärmen. Der nächste Kunde wartet bereits auf dem Hof und Dragos freut sich: „In Ocolna bewegt sich endlich was.“
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